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Das Bernsteinerbe

Das Bernsteinerbe

Titel: Das Bernsteinerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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du es vorausgesagt hast«, fuhr sie fort. »Nicht mal bis Pillau sind wir gekommen.« Bitter lachte sie auf. »Von der Seefahrt hat er sofort wieder genug gehabt. War ihm wohl zu anstrengend, von früh bis spät das Deck zu schrubben, die Leinen einzuholen, die Fracht ein- und auszuladen.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und drehte sich Carlotta halb zu. »Irgendwer hat ihm den Floh ins Ohr gesetzt, in Insterburg bräuchten sie kräftige Burschen wie ihn. Da könnte er rasch was werden. So verfiel der Dummkopf auf die Idee, auf dem Land gäbe es leichtere Arbeit als auf dem Schiff. Leider hat derjenige vergessen, Fritz zu sagen, dass er bei den Bauern zwar hart mit anpacken muss, aber trotzdem nur wenig zu beißen kriegt. Die Leute haben eben selbst nicht viel. Immer wieder fallen die Tataren ein, oder die Schweden ziehen auf irgendeinem Krieg durch die Stadt, mit den Preußen gleich dicht auf den Fersen. Da bleibt einfach wenig übrig, wenn überhaupt ein Stein lang auf dem anderen steht. Also sind Fritz und ich nach einem Jahr weiter nach Tilsit. Das ist nicht weit von dort. Aber da ist es auch nicht besser gewesen. In einer erbärmlichen Hütte haben wir gehaust, froh, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Irgendwann ist der Fritz immer länger im Wirtshaus geblieben als bei mir, mein Bauch ist dicker geworden, aber das Kind kam trotzdem zu früh und war einfach zu klein, um einen einzigen Schnaufer zu lassen. Beim zweiten hat es dann besser geklappt. Trotzdem habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin fort. Das ist eben kein Leben für mich.«
    »Und das Kind? Du hast doch nicht etwa dein Kind im Stich gelassen?« Fassungslos starrte Carlotta sie an.
    Von der Seite betrachtet, wirkten Linas Rundungen auf einmal nicht mehr so weich. Selbst die muntere Stupsnase erschien Carlotta nun scharf, das Kinn darunter seltsam spitz. Lina ballte die Fäuste, bis die Fingerknöchel weiß hervortraten. Mehrmals biss sie sich auf die Lippen. Es sah aus, als versuchte sie, das eben Gesagte zurückzuholen und vergessen zu machen. Dann brach sich ein empörter Seufzer Bahn.
    »Im Stich lassen kann man das beileibe nicht nennen. Ich wette, du hättest es nicht anders gemacht.«
    »Wie kommst du darauf?« Carlotta schnappte aufgebracht nach Luft und stemmte die kleinen Hände auf die kaum vorhandenen Hüften, wohl wissend, wie schmächtig sie neben der anderen wirkte. »Du kannst so ein hilfloses kleines Wesen doch nicht einfach bei einem Burschen zurücklassen, der den ganzen Tag nur im Wirtshaus sitzt und …« Sie fuchtelte mit den Armen, suchte verzweifelt nach dem richtigen Wort.
    »… säuft«, ergänzte Lina. »Keine Sorge, das habe ich auch nicht getan.«
    »So? Was dann?«
    »Ich habe das Würmchen gepackt und dafür gesorgt, dass es eine bessere Zukunft bekommt.«
    »Was soll das heißen?« Plötzlich befürchtete Carlotta das Schlimmste. Wild wirbelten die Gedanken in ihrem Kopf. Einerseits fragte sie sich, ob Lina wirklich zum Äußersten bereit wäre, andererseits schalt sie sich töricht, ihr derart Verwerfliches überhaupt zuzutrauen. Zu ihrer Verblüffung stellte sie fest, dass Lina sich in der Beachtung, die sie ihr währenddessen zuteilwerden ließ, regelrecht sonnte. Die Arme vor dem üppigen Busen verschränkt, wiegte sie den Oberkörper hin und her.
    »Natürlich habe ich ihm kein Leid getan. Sehe ich etwa aus wie eine Kindsmörderin? Mein eigen Fleisch und Blut zu töten – wie kannst du so etwas auch nur von mir denken?«
    Beleidigt schürzte sie die Lippen. Ihre grünblauen Augen funkelten. Ertappt senkte Carlotta den Blick. Beschwichtigend tätschelte Lina ihr die Schulter. So dicht neben ihr fühlte sich Carlotta wie ein kleines, unbedarftes Kind, das eine entsetzliche Dummheit begangen hatte. Lina musste das ähnlich empfinden, zumindest meinte Carlotta zu spüren, dass sie die Überlegenheit genoss.
    »Keine Sorge, es geht alles mit rechten Dingen zu«, sagte sie begütigend. »Bei reichen Leuten in Pillau habe ich das Würmchen untergebracht, bei solchen, die zwar alles Geld der Welt, aber keine eigenen Kinder haben und deshalb alles tun, damit es dem Kleinen gutgeht.«
    Wieder konnte Carlotta die Augen nicht von ihr lassen. Trotz der Erklärung war sie nicht beruhigt. Da stimmte etwas nicht, das spürte sie, konnte es aber nicht genauer benennen. »Was ist es überhaupt?«, platzte sie ungeduldig heraus.
    »Wie? Was?« Verwirrt fuhr Lina zusammen. Schon meinte Carlotta, sie ertappt

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