Das Bernsteinerbe
Magdalena vom Stuhl. »Mich noch weiter aufregen? Natürlich werde ich mich noch weiter aufregen! Und stell dir vor, dazu brauche ich nicht einmal deinen Rosmarinwein.« Sie atmete schwer und fuhr endlich gefasster fort: »Ausgerechnet mir muss das passieren! Mein Leben lang habe ich nie etwas anderes getan, als Menschenleben zu retten. Selbst meinen ärgsten Feinden habe ich in der Not beigestanden. Sogar den grausamen Profos Seume, der Eric an den Galgen bringen wollte, habe ich wieder zusammengeflickt und zudem Hauptmann Lindström kuriert, obwohl er dir und mir mit dem Tod gedroht hatte. Trotzdem hat niemand Erbarmen mit mir, trotzdem muss ich jetzt ausgerechnet hier in Königsberg so kläglich versagen! Als wäre ich nicht schon genug damit gestraft, dass ich den einzigen Menschen, den ich wirklich je habe retten wollen, nicht habe retten können.«
Heftig schluchzte sie auf, warf die Arme in die Luft und klappte unter jämmerlichem Wimmern in sich zusammen.
Mit einem Satz war Carlotta bei ihr, fing sie auf und geleitete sie zum Stuhl. Wie zerbrechlich die Mutter war! Zart wie ein Vogel und leicht wie eine Zwölfjährige.
»Ruhig, Mutter, ganz ruhig«, flüsterte sie ihr zu und strich ihr sanft über den Rücken. Sie wiegte sie sacht in den Armen wie eine Mutter ihr Kind. »Du trägst keine Schuld an Vaters Tod. Niemand hat ihm mehr helfen können. So bitter, wie es ist, es war einfach alles zu spät.«
In ihrem Hirn arbeitete es angestrengt. Längst war ihr klargeworden, dass Magdalenas Verzweiflung unmöglich mit Mathias’ unerwartetem Auftauchen zusammenhängen konnte. Die Mutter musste von einem anderen Erlebnis sprechen. Erleichterung empfand sie dennoch nicht.
»Die ganze Zeit habe ich es schon gespürt.« Mit einem Ruck richtete sich Magdalena wieder auf. Nachdenklich griff sie Carlotta an den Hals und zog die Lederschnur mit dem Bernstein unter dem Stoff des Mieders hervor. Mehrmals drehte sie den honiggelben Stein zwischen den Fingern und musterte ihn, als betrachtete sie ihn zum ersten Mal. Schließlich zog sie Carlotta mitsamt der Schnur so nah vor sich, bis das Talglicht auf dem Tisch ausreichend Licht schenkte, den Stein von hinten zu beleuchten. Gut sichtbar streckte das Insekt seine sechs Beine von sich, vor Jahrtausenden in der Bewegung erstarrt.
Halb gebückt verharrte Carlotta in der unbequemen Haltung vor der Mutter. Schließlich nahm sie das Band vom Hals und reichte es mitsamt dem Stein Magdalena. »Wenn du denkst, es liegt daran, dass dir dein Stein fehlt, nimm ihn zurück. Ich werde auch ohne den Bernstein meinen Weg beschreiten.«
»Du weißt genau: Das ist der Stein von Englund, Erics Vetter, nicht der deines Vaters!« Entschlossen hängte Magdalena ihr das Band wieder um. »Deshalb ist er dir Amulett und Talisman zugleich. Du musst mir versprechen, diesen Bernstein stets bei dir zu tragen. Er allein kann dich vor Unheil beschützen und dir dein Lebensglück bewahren. Dein Vater hätte es nicht anders gewollt. Englund und er waren wie Brüder, also ist ein Stein so gut wie der andere. Mein Stein allerdings wacht längst bei Eric im Grab, bis wir uns dereinst im Himmel wiedersehen werden.«
Sie erhob sich und trat abermals zum Tresor hinüber, wo sie etwas aus dem verschlossenen Fach hervorholte. Mit einer kleinen Schachtel in der Hand kam sie zurück. Kurz stoppte sie vor Carlotta, wollte offenbar etwas sagen. Dann besann sie sich und ging weiter zum Fenster. Sie starrte hinaus.
Inzwischen war es draußen dunkel geworden. Auch drinnen reichte das Talglicht auf dem Tisch nicht mehr aus, die langgestreckte Wohnstube ausreichend zu erhellen. Carlotta holte eine Handvoll Kerzen vom Wandbord, steckte sie in den Leuchter auf dem Tisch und entzündete sie an der Flamme des Talglichts.
Ihre Mutter wandte sich um. Der angenehme Duft echten Bienenwachses erfüllte alsbald den gesamten Raum. Gebannt wartete Carlotta, ob Magdalena die geheimnisvolle Schachtel öffnen und ihr den Inhalt zeigen würde. Um ihre Neugier zu verbergen, vermied sie es, daraufzustarren. Zu ihrer Enttäuschung aber stellte die Mutter die Schachtel beiseite und würdigte sie keines weiteren Blickes.
»Es war«, begann sie mit brüchiger Stimme, »es war, als hätte ich das Unglück regelrecht auf mich zukommen sehen. Trotzdem bin ich heute zu Gerke, töricht wie ein Schaf, das sich freiwillig zur Schlachtbank führen lässt.«
»Du warst bei Gerke?«, hakte Carlotta ein. Die Mutter nickte und fuhr ohne weitere
Weitere Kostenlose Bücher