Das Bernsteinerbe
und nahm den wollenen Umhang von den Schultern. Winzige Eiskristalle und Wasserperlen glänzten auf dem Stoff, kündeten von dem Schneegestöber draußen. Der Rock darunter schien trocken, ebenso zeigten sich seine gutgewienerten, hellen Stiefel bar jeden Drecks. Wie so oft musterte Carlotta Helmbrecht bewundernd. Seit sie ihn kannte, faszinierte sie sein Erscheinungsbild. Dabei war er beim besten Willen nicht schön zu nennen, was nicht allein an seinen vernarbten Wangen lag. Ein gutes Stück kleiner als ihr Vater Eric, machte er dennoch stets eine vornehme Figur. Bis zu den Stiefelspitzen pflegte er sich tadellos zu kleiden. Undenkbar, dass er jemals versehentlich in eine Pfütze sprang oder gar in einen Haufen Unrat trat, geschweige denn, sich derart vergaß, dass darüber sein Habitus in Unordnung geriet.
»Sei es, wie es sei, Verehrteste«, durchbrach er mit seiner melodischen Stimme die unheimliche Stille und zupfte eine unsichtbare Faser von seinem Ärmel. »Wenn Ihr nicht nach Leipzig wollt, können wir auch nur bis Danzig reisen. Bis sich die Lage hier am Pregel beruhigt hat, seid Ihr auch dort den Winter über bestens aufgehoben. So entfernt Ihr Euch nicht allzu weit von Eurem Kontor und seid im Frühjahr rasch wieder zurück am Pregel. Angesichts des heutigen Vorfalls im Kneiphof aber müsst auch Ihr eingestehen, wie gefährlich die Lage hier geworden ist. Ich werde nicht zulassen, dass Ihr sehenden Auges in Euer Unglück rennt.«
»Hier rennt niemand, mein Bester«, stellte Magdalena klar, »am wenigsten in ein Unglück. Meine Tochter und ich bleiben hier am Pregel, wo wir ein für alle Mal hingehören.«
Zur Bestätigung legte sie den Arm um Carlotta. Von der Verzweiflung war ihr nicht mehr das Geringste anzumerken. Helmbrecht gegenüber wollte Magdalena offensichtlich stark und eigenständig erscheinen. Das erfüllte Carlotta mit Genugtuung. Trotz ihrer Bewunderung für sein Auftreten mochte sie Helmbrecht nicht sonderlich, seit er sie beide vor vier Jahren nahe Thorn so schmählich im Stich gelassen hatte. Dabei wäre es damals ein Leichtes für ihn gewesen, sie mit einem klärenden Wort von den Vorwürfen der Hexerei freizusprechen.
Helmbrecht schwieg enttäuscht. Die Mutter räumte die Schachtel zurück in den Tresor und verschloss das Schrankfach sorgfältig. Wieder klopfte es an der Tür.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«
Überrascht fuhr Magdalena herum. Im Türrahmen stand ein Mann. Entsetzt schlug sie die Hände vor den Mund und stammelte: »D-d-das ist nicht möglich!«
Helmbrecht eilte zu ihr. Carlotta war unfähig, sich zu rühren. Ein blauberockter Offizier in roten Hosen trat in den Raum. Die schweren, genagelten Reiterstiefel ließen jeden einzelnen Schritt hart auf den Holzdielen aufknallen. Obwohl ein Großteil des Gesichts im Schatten der breiten Hutkrempe lag, bestand kein Zweifel, wer vor ihnen stand: Mathias!
»Was fällt dir ein, hierherzukommen?«, brauste Carlotta auf.
»Du wusstest, dass er in Königsberg ist?« Helmbrecht wirkte zunächst verstört, fasste sich aber rasch und wandte sich dem Eindringling zu: »Du bist jetzt bei den Kurfürstlichen? War es dir bei den Österreichern nicht mehr gut genug? Hast du dich deshalb seit zwei Jahren nicht mehr bei mir gemeldet?«
»Er wird wohl einen guten Grund gehabt haben, die Farben zu wechseln.« Kurz verharrte Carlotta bei Mathias, sah ihm drohend in die schwarzen Augen und lief zur Tür hinaus.
2
F ast wäre Lina geradewegs auf den Boden hingeschlagen, so heftig riss Carlotta die Tür auf. Erschreckt ruderte die Magd mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Ihre Wangen brannten, die Ohren glühten, als sie halb nach vorn gebeugt zum Stehen kam. Trotz der eigenartigen Position gelang es ihr, einen Blick in die Wohnstube zu werfen. Zu Salzsäulen erstarrt, standen der fremde preußische Offizier sowie Magdalena Grohnert und Philipp Helmbrecht einander gegenüber. Keiner sagte ein Wort.
»Du hast gelauscht?« Die Tür fiel krachend hinter Carlotta ins Schloss. Beschämt senkte Lina den Kopf. »Nun gut.«
Ohne etwas hinzuzufügen, rannte Carlotta die Treppe ins zweite Geschoss hinauf.
Verblüfft starrte Lina ihr nach, bis das Dunkel des oberen Stockwerks sie verschluckt hatte. Eine Tür klapperte, dann wurde es wieder still. Auch im übrigen Haus war kaum etwas zu hören. Selbst Hedwig und Milla schienen unten in der Küche besonders leise mit dem Geschirr zu hantieren, während sie das Nachtmahl bereiteten.
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