Das Bernsteinerbe
schüttelte den Kopf. Es kam selten vor, dass die Köchin nicht wusste, wenn im entlegensten Winkel des großen Hauses in der Langgasse ein Floh hustete oder eine Fliege tot von der Wand fiel. »Gut zwei Stunden mag es wohl schon her sein, dass er losgelaufen ist. Als ich nach Hause kam, war Mutter bereits fort. Deshalb habe ich Steutner gebeten, an der Börse nach ihr zu suchen. Dort ist sie oft gegen Mittag anzutreffen.«
»Aber doch nicht mit der Wundarzttasche! Noch dazu braucht Steutner keine zwei Stunden bis zur Börse und zurück. Also hat er sie natürlich nicht gefunden und macht sich einen schönen Lenz außerhalb des Kontors. Du weißt ja, was für ein Narr das ist.«
Sie fuhr sich mit den Händen über den breiten Schädel, scherte sich nicht um die grauen Haarsträhnen, die dabei unter dem weißen Kopftuch herausrutschten, und sah Carlotta traurig an. Die Hände an die Schläfen gepresst, brummte sie leise: »Kindchen, Kindchen!« Carlotta erschrak. Das klang, als wüsste die Alte längst Bescheid. Sie wollte etwas erwidern, sich verteidigen, ihr Mathias’ seltsames Auftreten vor Augen führen. Etwas an Hedwigs Gebaren aber machte es unmöglich, sich ihr anzuvertrauen.
Gemeinsam stellten sie sich wieder ans Fenster. Nach wie vor fegte der Wind durch die Stadt, rüttelte an den Fenstern, wirbelte Laub und Unrat unten auf der Gasse hoch, trieb dichte Schneeböen vor sich her. Allmählich überdeckte eine zarte, weiße Schicht Pflaster, Mauern und Dächer. Keine Menschenseele zeigte sich. Carlottas Finger glitten zum Bernstein. Sie hob ihn zum Mund und küsste ihn. Ein eigenartiges Gefühl beschlich sie. Auf einmal wusste sie nicht mehr, ob sie die baldige Rückkehr der Mutter herbeisehnen sollte. Warum nur war Mathias ausgerechnet in Königsberg aufgetaucht? Es musste ihm doch klar sein, was er damit heraufbeschwor! Haltsuchend klammerten sich ihre Finger um den Bernstein. Leider war es immer schon Mathias’ Natur gewesen, für Verwirrung und Ärger zu sorgen. Sie schluckte erste Tränen hinunter.
Im Haus regte sich etwas. Türen knarrten, Schritte dröhnten durch die Diele, Stimmen erklangen. Fragend sahen Carlotta und Hedwig einander an. Langsam stieg jemand die Treppe hinauf, im Obergeschoss angelangt, zögerten die Schritte, dann wurde vorsichtig die Tür geöffnet.
»Mutter!«, entfuhr es Carlotta, und sie stürzte der zierlichen Gestalt entgegen. Doch dann hielt sie inne.
Die schwarzgekleidete Frau wirkte unnahbar. In der Hand hielt sie ein heftig flackerndes Talglicht. Das schale Licht beleuchtete Magdalenas Antlitz spärlich: Tief waren die smaragdgrünen Augen in die Höhlen gesunken, die schmalen Wangen betonten die spitze Gesichtsform, die helle Haut wirkte durchscheinend. Carlotta wagte nicht, nach Magdalenas Hand zu greifen. Sie fürchtete fast, die Erscheinung vor ihr könne sich in Luft auflösen.
»Was ist passiert?«, fragte sie zaghaft.
»Nichts«, erwiderte die Mutter und ging an ihr vorbei zum trutzigen Tresor aus Nussbaumholz an der Stirnwand der Wohnstube. Dort fingerte sie den Schlüssel hervor, der an ihrem Gürtel hing, und schloss das mittlere Fach auf. Besorgt beobachteten Carlotta und Hedwig die geübten Handgriffe. Nur zu gut wussten sie, was sich in dem Schrankfach verbarg: der Branntwein, den Carlotta bei Operationen zur Betäubung der Patienten verwendete. Vor langer Zeit hatte Magdalena erzählt, wie sie im Großen Krieg der Versuchung erlegen war, ihren Kummer damit wegzutrinken. Über zwei Jahre war sie damals unfreiwillig von Carlotta und Eric getrennt gewesen, hatte bald jede Hoffnung auf ein Wiedersehen, ja gar auf ein Überleben der beiden verloren. Nur dank eines glücklichen Zufalls hatte sie sich wieder von dem Übel befreien können und ihre Familie wiedergefunden.
Carlotta und Hedwig wechselten besorgte Blicke. Magdalena wirkte abgrundtief verzweifelt. Schon hatte sie den Schlauch in der Hand, entkorkte ihn, zögerte dann allerdings, ihn tatsächlich an die Lippen zu setzen. Geistesgegenwärtig nutzte Carlotta diesen Moment und entriss ihr den Schlauch. »Was immer dir heute geschehen ist: Das hier hilft dir nicht weiter!«
»Wenn du nur wüsstest«, murmelte Magdalena und sank auf den nächstbesten Stuhl. Erschöpft stützte sie die Ellbogen auf die Tischplatte und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Ich habe es doch immer gesagt.« Schwer atmend watschelte Hedwig heran und legte ihr den Arm um die Schultern. »Der Montag ist kein guter
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