Das Bernsteinerbe
Tag.«
Carlotta verdrehte die Augen und verschloss den Branntwein wieder im Tresor.
»Für nichts und wieder nichts ist dieser wankelmütige erste Tag der Woche geeignet«, sprach die Alte unbeirrt weiter. »Ganz gleich, wie er beginnt und was geschieht, er bringt nur Unglück. Warum nur habt Ihr am Vormittag das Haus verlassen? Ihr habt doch gewusst, wie es im Kneiphof heute zugeht. Steutner hat es Euch bei seinem Eintreffen im Kontor stehenden Fußes geschildert. Der Lärm, den die Dragoner des Kurfürsten drüben vor dem Dom veranstaltet haben, war bis zu uns in die Langgasse zu hören. Was geschehen ist, darf keinen wundern. Selbst Roth hat damit gerechnet, dass sie ihn eigenhändig aus seinem Haus holen werden! Trotzdem aber habt Ihr ausgerechnet heute fortgehen müssen. Und nur, weil ein wildfremder Bursche Euch um Hilfe gerufen hat. Wer war das überhaupt? Wohin hat er Euch geführt? So, wie Ihr ausseht, müsst Ihr unterwegs dem Leibhaftigen begegnet sein. Was glaubt Ihr, welche Sorgen wir uns gemacht haben? Keinem von uns habt Ihr ein Sterbenswort verraten. Weder darüber, was Ihr vorhabt, geschweige denn, warum Ihr dazu die Wundarzttasche braucht. Und das nach all den Jahren, in denen allein Carlotta sie noch geöffnet hat.« Sie schüttelte energisch den breiten Schädel und murmelte tonlos: »Tut das nie wieder, Herrin! Einmal noch bitte ich Euch im Guten.«
Keuchend schwankte sie aus der Wohnstube. Bleiernes Schweigen senkte sich über die Stube, einzig unterbrochen vom Ticken der Uhr auf dem Wandbord und vom Reißen des Windes an den Fenstern. Von dem kräftigen Luftzug, den die verzogenen Fensterrahmen durch die Ritzen einließen, tanzte das Talglicht auf dem Tisch kläglich im eigenen Saft.
Die gebeugte schwarze Gestalt der Mutter fest im Blick, kaute Carlotta auf den Lippen. Sie war zutiefst verunsichert.
»Hör auf, mich auf die Folter zu spannen«, platzte sie schließlich heraus. »Du hast ihn also gesehen und weißt Bescheid.«
»Was? Wen?« Die Mutter hob den Kopf und blickte sie verständnislos an. »Wovon redest du?«
War alles nur ein böser Traum? Ratlos blickte Carlotta in die müden, ehemals so rätselhaft schönen grünen Augen der Mutter. Die kleine, harmonisch geschwungene Nase ragte vorwitzig nach oben, die Nasenflügel bebten kaum merklich. Plötzlich meinte die Siebzehnjährige aus ihrem Alp zu erwachen. »Du brauchst wohl eine Stärkung.«
Entschlossen ging sie wieder zum Nussbaumschrank, fingerte den rostigen zweiten Schlüssel aus den Falten ihres Rocks und öffnete den Tresor. Neben dem Branntweinschlauch fand sie, was sie suchte. Mit zittrigen Fingern griff sie nach dem braunen Gefäß und holte einen tönernen Becher aus dem Regal. Noch im Gehen entkorkte sie den Verschluss und goss von dem duftenden Rosmarinwein in den Becher. »Trink«, hielt sie es Magdalena auffordernd unter die Nase. Ob des süßlichen Geruchs rümpfte die Mutter die Nase. »Das wird dir guttun – besser als jeder betäubende Schluck Branntwein. Das weißt du genau.«
Endlich öffnete Magdalena den Mund. Rasch kippte Carlotta die dickliche, golden schimmernde Flüssigkeit durch den schmalen Spalt, schenkte sofort eine zweite Portion nach und flößte sie ihrer Mutter ebenfalls ein.
»Es ist wirklich unfassbar! Erst habe ich meinen Augen nicht trauen wollen«, plapperte Carlotta los, plötzlich seltsam aufgekratzt, als hätte sie die Stärkung selbst zu sich genommen. »Aber es war kein Zweifel möglich. Als ich ihn nah vor mir gesehen habe, ist es mir sofort klar gewesen. Eines Tages hat es einfach so kommen müssen. Seit wir hier in Königsberg sind, habe ich letztlich auf diesen Moment gewartet.«
»Ja, du hast recht.« Die Mutter sprach so leise, dass sie kaum zu verstehen war, und streckte ihr nun fordernd den Becher entgegen. Gehorsam goss Carlotta nach. »Mir war klar, dass du auf den ersten Blick gesehen hast, was mit ihm los ist«, sagte Magdalena mit zunehmend kräftiger werdender Stimme. »Wie gern hätte ich dich an meiner Seite gewusst! Aber dich zu rufen, war nicht möglich. Also habe ich bis zuletzt allein bei ihm ausgeharrt. Ach, Carlotta, Liebes. Es ist alles so furchtbar!«
In einem Zug kippte sie den Inhalt des Bechers in den Mund und begehrte von neuem Nachschub.
»Nein«, wehrte Carlotta ab und trug das Gefäß mit dem Rosmarinwein zum Schrank zurück. »Für heute ist es genug. Sonst beginnt dein Herz zu rasen, und du regst dich nur noch weiter auf.«
Entrüstet sprang
Weitere Kostenlose Bücher