Das Bernsteinerbe
Erklärung fort: »Dass ausgerechnet seine Frau nach mir geschickt hat, hätte mich warnen müssen. Aber es war wie immer: Wenn ich höre, jemand braucht meine Hilfe, kann ich einfach nicht nein sagen, selbst wenn ich ins offene Messer renne. Seit Wochen ging es Gerke schon schlecht. Doch was rede ich nur immerzu?« Mitten im Erzählen hielt sie inne und schaute Carlotta vorwurfsvoll an. »Dich interessiert das sowieso nicht. Du hast doch keine Ahnung, was in mir vorgeht. Warum sonst hast du mir eben den Bernstein überlassen wollen? Das, was deinen Vater und mich einst verbunden hat, sagt dir nichts! Du weißt nicht einmal, wie mir in den Jahren seit Erics Tod zumute gewesen ist, was es für mich bedeutet hat, das Kontor meiner Familie wiederaufzubauen und das Haus hier im Kneiphof für uns beide herzurichten. Immer nur schaust du darauf, wie du deine Wünsche umsetzen kannst, wie du Wundärztin wirst, dir den richtigen Mann sicherst, um noch mehr daraus zu machen.«
»Mutter!« Empört stampfte Carlotta mit dem Fuß auf. Die Worte trafen sie hart, dennoch zwang sie sich, ruhig zu bleiben. Magdalena war nicht bei sich, wusste kaum, was sie sagte. Drei Becher des süßen Weins waren wohl zu viel gewesen, selbst wenn Carlotta sie nur halb voll geschenkt hatte. Sie hatte die anregende Wirkung von Rosmarin unterschätzt. Magdalenas Atem zeugte von dem ungewohnten Alkoholgenuss, ihr stierer Blick stand im Gegensatz zu ihrem sonst so sanftmütigen Auftreten. Nie und nimmer erhob sie bei klarem Verstand solche wüsten Vorwürfe gegen sie. Vielleicht sollte sie ihr einige Tropfen beruhigenden Melissenöls verabreichen? Ein lauter werdendes Pochen an der Tür riss sie aus den Überlegungen.
»Ja, bitte«, rief Magdalena und drehte kaum den Kopf, um zu sehen, wer Einlass begehrte.
Lina kam gar nicht dazu, den Gast anzumelden. Ungeduldig schob Helmbrecht sie bereits beiseite und eilte mit großen Schritten in die Stube.
»Seid Ihr wohlauf, Teuerste?« Mit ausgebreiteten Armen, den Hut noch in der Hand, eilte er auf Magdalena zu. »Glaubt Ihr mir jetzt, dass es höchste Zeit ist, die Stadt zu verlassen? Ich versichere Euch: Bei mir in Leipzig seid Ihr und Eure Tochter den Winter über in Sicherheit. Bitte packt gleich Eure Sachen. Morgen schon können wir fort. In drei Wochen sind wir in Leipzig.«
»Wie kommt Ihr darauf, dass wir die Stadt verlassen sollten?« Carlotta starrte Helmbrecht an. Seltsamerweise reagierte Magdalena gar nicht auf sein Auftauchen. Dabei konnte sie es sonst kaum erwarten, ihn freudig in ihrem Haus willkommen zu heißen.
»Ich kann jetzt nicht von hier fort«, murmelte die Mutter kaum hörbar und nahm wieder die Schachtel in die Hand, presste sie sich fest gegen die Brust. »Mein Versagen wird dadurch erst recht zum Gesprächsstoff.«
»Wovon sprichst du eigentlich?«, fragte Carlotta. Ein Blick zu Helmbrecht bestätigte ihr, dass auch er nicht begriff, worauf die Mutter hinauswollte. »Was ist in Gerkes Haus geschehen? Erzähl doch endlich!«
»Ihr wart bei Gerke?«, hakte Helmbrecht nach. »Hat er noch gelebt? Mir kam zu Ohren, er wäre heute Mittag überraschend gestorben. Hat ihn das Auftauchen der Kurfürstlichen etwa zu Tode erschreckt? Der aufrichtige Mann! Gott sei seiner armen Seele gnädig.« Ergriffen schlug er ein Kreuz vor der Brust, faltete die Hände zum stillen Gebet und senkte den Kopf.
»Gerke ist tot?«, wagte Carlotta nachzufragen. Nun begann sie zu verstehen, was in Magdalena vorging: Sie warf sich Versagen vor, weil er vor ihren Augen gestorben war.
»Ich lasse euch wohl besser allein«, stellte Carlotta fest. »Mir scheint, ihr beide habt einiges miteinander zu besprechen.«
Sie wollte zur Tür, doch Magdalena hielt sie am Arm zurück, rang sich gar zu einem scheuen Lächeln durch. »Bitte, bleib, Liebes! Es gibt nichts zu verbergen. Alles, was zwischen Helmbrecht und mir besprochen wird, kannst du ebenso mit anhören. Ich habe keinerlei Geheimnisse vor dir, mein Kind.«
»Wie du meinst.« Unbeabsichtigt fiel Carlottas Blick auf die Schachtel. Magdalenas Lächeln wurde breiter, als sie das bemerkte. Verschwörerisch zwinkerte sie ihr zu und presste die Schachtel noch fester gegen die Brust.
Helmbrecht atmete tief durch. Seine dunklen Bernsteinaugen blickten zwischen der Mutter und Carlotta hin und her, die Blatternarben auf seinen Wangen leuchteten rot im hellen Kerzenlicht, die Enden seines langen, dünnen Lippenbarts bebten. Sorgsam bettete er den Hut auf den Tisch
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