Das Bernsteinerbe
Damen dort mit den Fingern nach uns schnippen«, murrte er und schlurfte auf eine Tür zu, hinter der sich sein Studierzimmer verbergen mochte.
»Was ist denn, Vater?«, ertönte eine jüngere, sehr wohlklingende Männerstimme aus dem oberen Geschoss. Der Alte blieb auf halbem Weg stehen und sah hinauf. Auch die Wirtschafterin wandte sich zur Treppe.
Geschickt nutzte Lina den Moment und stieß die Haustür weiter auf. Endlich konnte sie die geräumige Diele in Augenschein nehmen. Rechts befand sich wie in den meisten Bürgerhäusern die offene Küche mit dem gewaltigen Kamin, linker Hand beherrschte eine ausladende Treppe den Raum. Leichtfüßig lief ein elegant gekleideter junger Mann die Stufen hinunter, übersprang die letzten mit einem einzigen Satz und landete dicht vor dem alten Griesgram.
»Wer schickt dich?«, fragte er Lina mit einem zuvorkommenden Lächeln.
»Lass sie, Christoph, es lohnt nicht, sich weiter mit ihr zu beschäftigen. Mit diesen Leuten haben wir nichts zu tun.« Der Alte klopfte ihm auf die Schulter und tappte davon. Die Wirtschafterin jedoch verharrte auf ihrem Platz, jederzeit bereit, Lina auf einen Wink davonzujagen oder ins Haus zu holen.
Die junge Magd starrte den Jungen verblüfft an. Der Blick seiner grauen Augen hielt sie gefangen, ebenso der Klang der volltönenden Stimme. Dabei war der junge Medicus nicht einmal sonderlich ansehnlich zu nennen. Haut und Haar wirkten eine Spur zu schal, leuchteten aber eindrücklich im Schein des Kerzenlichts. Überhaupt schien ein einnehmendes Strahlen von ihm auszugehen. Die Gesichtszüge waren weich, um die Nase herum erstaunlich klar. Von der Statur her war er etwas stämmig, das aber tat dem anmutigen Gesamteindruck keinen Abbruch. Seine Bewegungen erfolgten fließend, geradezu grazil für einen Mann seines Alters. Lina konnte gar nicht anders, als ihn immerzu verzaubert anzuschauen.
»Nun?«, insistierte er bereits etwas ungeduldiger. »Hat dich der eisige Oktoberwind zu uns hergeweht? Oder hat dir der Anblick einer warmen Stube die Sprache verschlagen? Verrat uns, was du willst. Schließlich möchte ich ungern erfrieren.«
»Ihr m-m-m-üsst m-m-mit m-m-mir ko-ko-kommen.« Zu ihrer Schande brachte sie kaum mehr als ein unbeholfenes Stammeln heraus. Aufgeregt knetete sie die Finger. Der schwarze Rand unter den Nägeln beschämte sie. Hastig krallte sie die Fingerspitzen wie Klauen ein, strich den Rock glatt und verbarg die schmutzigen Schuhe so gut wie möglich unter dem Saum. Selbst wenn er nur die Magd in ihr sah, sollte er doch zumindest eine sehr reizvolle Magd vor sich haben.
»Du befiehlst mir also«, stellte er fest. »Ein dreister Auftritt. Anscheinend hat das Auftauchen der kurfürstlichen Dragoner heute Mittag auch dir Mut gemacht, kühner zu werden.«
Abermals erschrak sie. Als sie den Blick hob, bemerkte sie ein spöttisches Zucken um seine vollen Lippen. Die Scharte an seinem Kinn hatte etwas Anrührendes. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
»Verzeiht, Herr«, begann sie heiser, schluckte, fuhr lauter fort: »Natürlich kann ich Euch nur höflich bitten, mit mir zu kommen. Doch glaubt mir: Es ist wirklich dringend.«
»Denkst du nicht, ich kann das leichter entscheiden, wenn du mir endlich verrätst, wer dich überhaupt schickt? Schließlich sollte ich wissen, wohin ich dir folgen soll. Oder stellst du mir ein Rätsel?«
Verlegen wand sie sich. Was sollte sie ihm auch antworten? Geschickt hatte sie niemand. Aber das durfte sie ihm nicht sagen.
»Ich komme aus der Kneiphofer Langgasse«, sagte sie und verstummte sogleich wieder. Der Schatten, der bei ihren Worten über sein Gesicht huschte, entging ihr nicht. Sie nahm allen Mut zusammen und erklärte: »Die Damen Grohnert brauchen Eure Hilfe, genau genommen ist es vor allem …«
»Lass gut sein«, fuhr er grob dazwischen. Seine Miene war plötzlich bar jeden Spotts. »Das will ich gar nicht wissen. Schließlich werde ich so oder so nicht mit dir kommen.«
Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, selbst das Leuchten seiner Haare schien erloschen. Trotzig streckte er den Rücken durch. Die Wirtschafterin tat es ihm nach und legte zugleich die Hand auf die Klinke, jederzeit bereit, doch noch die Tür vor Lina zuzuschlagen.
»Aber es ist dringend!«, flehte Lina, wagte gar einen Schritt weiter auf die Schwelle zu. Sofort schob sich die Wirtschafterin dazwischen, Kepler wich nach hinten zurück.
»Wenn Ihr nicht mitkommt, geschieht ein furchtbares Unglück«,
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