Das Bernsteinerbe
Einer der Burschen entdeckte sie und grinste frech.
»Wen versteckst du da vor uns? Gönnst dir wohl ein hübsches Mädchen für heute Nacht, was, Kepler?«
»Das darf der ehrwürdige Herr Vater aber nicht merken!«, riet ein anderer und drohte mit dem Zeigefinger.
»Deshalb sucht ihr euch wohl ein ruhiges Plätzchen fern von der Altstadt.«
Schmutzig lachten die Studenten auf, umringten Kepler und Lina und begafften sie unverhohlen von oben bis unten.
»Ihr müsst euch nicht grämen«, entgegnete der junge Kepler in nicht minder frechem Ton. »Wartet nur eine Weile hier an der Ecke. Schließlich kriechen auch für euch noch irgendwann ein paar räudige Katzen aus den Löchern.«
Darauf lachte er ebenfalls und schob die Studenten auseinander, sich einen Durchgang zu verschaffen. Ungerührt zog er Lina mit sich fort.
Endlich schälten sich die Giebel der Langgasse vor dem aufgewühlten Grauschwarz des Nachthimmels heraus.
»Wartet kurz«, rief Lina Kepler gegen den Wind zu, doch der junge Medicus reagierte nicht. Beherzt versuchte sie, ihn am Arm zurückzuhalten. »Ich muss Euch noch etwas sagen.«
Kaum kam das Singeknecht’sche Anwesen auf der linken Seite der Langgasse kurz vor der Krämerbrücke in Sicht, hastete Kepler noch schneller vorwärts. Sein Arm entglitt ihr, doch er drehte sich nicht einmal mehr zu ihr um. Hastig raffte sie Umhang und Rock und stürzte hinterher, über die glatten Stufen zum Beischlag hinauf. Erst an der Haustür holte sie ihn wieder ein. Dort allerdings kam sie nicht mehr dazu, ihre Warnung loszuwerden. Schon öffnete Hedwig die Türflügel.
»Kepler, Ihr?«
3
V erwundert starrte die alte Hedwig den jungen Kepler an. Der Medicus nahm den Hut vom Kopf und vollführte vor der gedrungenen Alten einen flüchtigen Kratzfuß.
»Verehrteste«, säuselte er, »verzeiht die späte Störung. Ich muss dringend Fräulein Carlotta sprechen.« Er wartete nicht, bis sie ihn hereinbat, sondern schlängelte sich gleich an ihr vorbei die Treppe ins Obergeschoss hinauf.
Lina wollte hinterher, immer noch in der Hoffnung, ihn rechtzeitig warnen zu können.
»Steckst du dahinter?« Blitzschnell schnappte Hedwig nach ihrem Arm und hielt sie fest.
»Lass mich!« Verärgert wollte sie sich losreißen, doch die Köchin packte nur fester zu.
»Was hast du dir bloß dabei gedacht?« Die kleinen Augen blitzten böse, das weiße Haar stand Hedwig in alle Richtungen vom Schädel ab. Patsch!, klatschte eine Ohrfeige auf Linas Wange. Sie hob die Hand, um sie auf die brennende Haut zu legen, da landete bereits die nächste auf der zweiten Wange. Das war zu viel. Wutentbrannt riss Lina sich los, fasste die Köchin ihrerseits an den Schultern und schüttelte sie heftig. »Wag das nie wieder!«, schrie sie mitten in das erschrockene Gesicht.
»Was tust du da?« Wie aus dem Nichts stand Milla neben ihr, die braunen Rehaugen schreckgeweitet, der dürre Leib zitternd wie Espenlaub. Mit unerwarteter Kraft zog sie sie von der Alten weg. Lina starrte sie an. Es war, als erwachte sie aus einer Betäubung. Wie konnte sie nur? Nie hätte sie in ihrer blinden Wut so weit gehen und Hedwig angreifen dürfen!
Aus dem Obergeschoss drangen aufgebrachte Stimmen in die Diele. Der junge Kepler schien die Tür zur Wohnstube offen gelassen haben. Wie gebannt verharrten die drei Frauen in der Diele, eine jede aufs Lauschen nach oben konzentriert. Gleich entspann sich oben ein reger Wortwechsel. Der Geräuschpegel schwoll gefährlich an. Mehrmals hörte man die Stimme von Magdalena Grohnert, die versuchte, die Herren zu beschwichtigen. Ihr Mühen schien vergeblich. Verängstigt drängte Milla sich gegen Lina. Als Hedwig dessen gewahr wurde, schnaubte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Lina legte der kleinen Magd schützend den Arm um die Schultern. Plötzlich erfüllte ein entsetzliches Brüllen das Haus. Es polterte und krachte. Stühle wurden umgeworfen, wütende Stiefelschritte knallten auf dem Holzboden. Ein Schrei Magdalenas gellte dazwischen, dann kehrte gespenstische Stille ein.
Im zweiten Obergeschoss fiel eine Tür ins Schloss, eilige Schritte auf der Treppe erklangen. Als wäre das ein Signal, ließ Lina Milla los und stürmte die Treppe hinauf. Auf dem Absatz vor der Wohnstube stieß sie mit Carlotta zusammen. Wütend schob die sie beiseite.
»Was um Himmels willen geht hier vor?«, rief Carlotta. Ungebeten schob sich Lina hinter ihr in die Wohnstube.
Drinnen bot sich ihnen ein Bild der Verwüstung:
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