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Das Bernsteinerbe

Das Bernsteinerbe

Titel: Das Bernsteinerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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krächzte Lina. »Dann, dann …«
    Nach Worten ringend sah sie ihm in die grauen Augen, entdeckte die unendliche Traurigkeit darin. Ihr fehlten die Worte, um auszumalen, was geschehen würde. Nur eins stand für sie fest: Mathias’ Auftauchen in der Langgasse konnte sie unmöglich erwähnen. Damit, das spürte sie, würde sie alles zunichtemachen. Nie und nimmer wäre er dann noch bereit, sie zu begleiten.
    »Was dann?«, hakte er nach und verschränkte die Arme vor der Brust, wie um sich selbst zu stützen.
    »Dann, dann«, suchte sie weiter nach einer Erklärung, bis ihr die rettende Idee kam. »Dann wird Carlotta mit ihrer Mutter brechen, und Ihr tragt erhebliche Schuld daran«, fügte sie hinzu. So schrecklich sich das anhörte, so wenig war es gelogen, beruhigte sie sich. Es war eben nur die halbe Wahrheit. Den Rest konnte sie ihm sagen, wenn er erst einmal Anstalten unternahm, sich auf den Weg zu machen.
    Beklommenes Schweigen breitete sich in der Kepler’schen Diele aus. Das Herdfeuer knisterte. Ein Holzscheit krachte. Der von der Straße eindringende Wind fachte die Glut weiter an. Verzweifelt legten sich die Kerzenflammen in den Leuchtern schräg, kämpften gegen das Verlöschen an. Behutsam nahm die Wirtschafterin die Hand von der Klinke und verschwand auf leisen Sohlen ins Innere des Hauses. Am Herd bückte sie sich, stocherte mit dem Schürhaken im Feuer herum und scherte sich keinen Deut mehr um das Geschehen an der Haustür.
    Bangen Herzens senkte Lina den Blick, hoffte, Kepler dadurch ausreichend Zeit zu schenken, sich auf das Richtige zu besinnen, auch wenn sie ihre Ungeduld nur mühsam unterdrücken konnte. Niemand konnte wissen, was dieser Mathias in der Zwischenzeit bei den Grohnert-Damen anrichtete.
    »Also gut.« Endlich kam wieder Leben in den jungen Medicus. »Ich komme mit. Schließlich kann ich Carlotta in dieser Stunde unmöglich alleinlassen.«
    Er eilte zu einem Haken neben der Treppe, nahm einen langen Wollmantel und einen eleganten Spitzhut herunter. Ohne sein Gesicht zu sehen, ahnte Lina, dass der spöttische Zug darauf zurückgekehrt sein musste. Schon drängte er an ihr vorbei nach draußen und stürzte sich in die unwirtliche Oktobernacht hinein.
    Lina war nicht viel kleiner als der junge Kepler. Trotzdem fiel es ihr schwer, mit ihm Schritt zu halten. Ehe sie sich versah, hatte er bereits eine gute Schrittlänge Vorsprung. Hastig schlitterte sie hinter ihm her, einzig darauf bedacht, ihm dicht auf den Fersen zu bleiben. Zwei bewaffnete Stadtknechte überholten sie im Laufschritt. Einer von ihnen leuchtete mit einer brennenden Fackel den Weg aus, musste die Flamme jedoch immer wieder von neuem gegen Wind und Schneeregen abschirmen. Lässig hob sein Kamerad die Hand zur Hutkrempe, um Kepler im Vorübereilen zu grüßen. Der nickte knapp zurück und steuerte geradewegs auf die Schmiedebrücke zu. Die Masten der Kähne auf dem Neuen Pregel schaukelten heftig und warfen unheimliche Schatten in die helle Mondnacht. Auf ihren Spitzen balancierten Möwen, nicht willig, den begehrten Schlafplatz dem Sturm zuliebe aufzugeben. Hin und wieder spreizte eine die Flügel und schrie gegen die Dunkelheit an.
    Lina duckte den Kopf tiefer zwischen die Schultern. Sie war nicht ängstlich, dennoch fühlte sie sich nicht sonderlich wohl in ihrer Haut. Kepler eilte indes bereits die Schuhgasse hinunter und schwenkte dann rechts hinüber in die Alte Domgasse. Die wenigen Menschen, die ihnen begegneten, hatten Besseres im Sinn, als auf sie beide zu achten. Auf halbem Weg zur Wassergasse hatte sich jedoch eine Gruppe lärmender Studenten zusammengerottet. Lina erspähte sie schon von weitem und fürchtete das Schlimmste. Rasch wechselte sie auf Keplers linke Seite, um sich in seinem Schatten an den Burschen unbemerkt vorbeizuschummeln.
    »Grüß dich, Kepler!«, rief einer der Studiosi und schwenkte fröhlich seinen Hut. »Was treibst du um diese Stunde noch hier draußen?«
    Zu Linas Überraschung blieb Kepler stehen. »Grüß dich!«, erwiderte er und sah den anderen freundlich an. Ihr Herz raste. Er hatte es doch eilig! Wie töricht von ihm, sich kurz vor dem Ziel ausgerechnet von diesen Lumpen aufhalten zu lassen. Hoffentlich waren das nicht die Studenten, denen sie auf dem Hinweg in die Arme gelaufen war. Unauffällig schob sie sich hinter Keplers breiten Rücken, doch es war zu spät. Der Wind blies die Wolken viel zu schnell über den Himmel, bald strahlte das Mondlicht erbarmungslos auf Lina.

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