Das Bernsteinerbe
Die Stühle lagen kreuz und quer auf dem Boden, die Tischdecke war halb heruntergerissen. Die Hälfte der Kerzen in dem großen Leuchter waren verloschen, die Talglichter auf dem Wandbord flackerten kümmerlich. In der hintersten Ecke der Stube, links neben der Truhe und dem ehrfurchtgebietenden Porträt Paul Joseph Singeknechts, drückte sich die Hausherrin gegen die Wand. Starr sahen ihre grünen Augen zu den drei Männern vor dem mittleren Fenster. Lina folgte ihrem Blick.
»Du elender Hurensohn!«, zischte der junge Kepler den preußischen Offizier an. »Dich werde ich lehren, mich einen Maulhelden zu nennen! Gleich wirst du am eigenen Leib erfahren, wie ich auch ohne Waffen furchtlos mit dir kämpfen kann.«
Seine Augen sprühten vor Zorn. Mit beiden Händen hielt er den anderen am Revers seines blauen Rocks. Obwohl er ein gutes Stück kleiner war, wirkte er dank seiner kräftigen Statur überlegen. Helmbrecht versuchte, ihn von dem Mann wegzuziehen, rüttelte ihn an den Schultern, zog ihn an den Armen. Vergeblich. Der junge Kepler ließ sein Opfer nicht los. Carlotta redete nun von der anderen Seite auf ihn ein, griff ebenfalls nach seinem Handgelenk. Doch auch sie konnte nichts bewirken. Kepler schien wie besessen, den Gegner niederzuzwingen.
Trotz der bedrohlichen Situation konnte Lina ihre Neugier nicht unterdrücken und reckte sich, diesen Mathias endlich direkt anzusehen. Sie brauchte nicht lang, um sicher zu sein, wer der Bessere für Carlotta war.
»So nehmt doch Vernunft an!«, bemühte sich Helmbrecht ein letztes Mal. »Ihr macht alles nur schlimmer.«
»Schlimmer? Ich? Dass ich nicht lache!« Kepler versetzte Mathias einen wütenden Stoß nach hinten. Hilflos ruderte der Offizier mit den Armen, drohte, nach hinten ins Fenster zu kippen. Im letzten Augenblick bekam er die Vorhänge zu fassen und zog sich daran in die Aufrechte zurück.
»Das Lachen wird dir noch vergehen, du erbärmlicher Wurm«, knurrte er und klopfte seinen blauen Uniformrock aus.
Kepler hatte sich bereits halb von ihm ab- und Carlotta zugewandt. Lina konnte von ihrer Position aus nicht sehen, welche Gefühle sich auf Carlottas Gesicht widerspiegelten.
»Wer bist du überhaupt, dass du es wagst, dich im Haus meiner Tante derart aufzuführen?« Mathias schritt auf ihn zu, schubste Helmbrecht achtlos beiseite und würdigte auch Carlotta keines Blickes.
Die nahezu schwarzen Augen waren einzig auf Kepler gerichtet. Die riesige Nase ragte bedrohlich weit aus dem schmalen Gesicht hervor. Flink schnellten die schlanken Hände nach oben und schlossen sich um Keplers Hals. Er drückte zu, fest und immer fester, bis das weiche Gesicht des jungen Medicus sich rot verfärbte und die grauen Augen aus den Höhlen traten. Verzweifelt schnappte er nach Luft, brachte jedoch nur ein kraftloses Japsen heraus.
Das Ganze ging so schnell, dass Helmbrecht keine Zeit blieb, abermals dazwischenzugehen. Carlotta schrie auf, sprang den jungen Offizier von der Seite an wie eine Katze.
»Mathias, nicht!«, rief sie und zerrte an ihm. »Tu das nicht! Du machst dich nur unglücklich.«
Als hätte er das tatsächlich gehört, ließ er im selben Moment von seinem Opfer ab und schaute kurz zu Carlotta. Lina, die nicht weit entfernt von den beiden stand, erfasste beim Anblick ein kalter Schauer. Seine schwarzen Augen hatten mit einem Mal etwas Teuflisches. Bedrohlich langsam drehte er sich wieder zu Kepler um. »Falls du dir einbildest, ein Recht auf Carlotta zu haben, sei gewarnt. Wenn du sie auch nur einmal anrührst, dann bringe ich dich um. Verlass dich drauf!«
Ehe sie alle so recht aus ihrem Schrecken erwachten, machte er auf dem Absatz kehrt, schnappte sich seinen breitkrempigen Hut vom Tisch und eilte zur Tür hinaus. Kepler besann sich nicht lang, fasste einmal kurz an seine Kehle und wollte dann ebenfalls aus der Wohnstube stürzen.
»Warte nur, Bürschlein«, rief er Mathias hinterher, »so leicht entkommst du mir nicht!«
»Nein!«, warf Carlotta sich ihm in die Arme, sank dabei in die Knie. Ihre Stimme war ein heiseres Krächzen. »Bleib, ich bitte dich! Lass Mathias gehen. Er will nur Unfrieden stiften. Bald verschwindet er mit seinem Fähnlein aus der Stadt, und alles ist wieder gut.«
Wie zur Bestätigung dröhnten Mathias’ schwere Soldatenstiefel laut durch die Diele. Die wuchtige Eichenholztür öffnete sich, er verließ das Haus. Kurz darauf fiel die Tür ins Schloss. Draußen auf dem Straßenpflaster verhallten seine Schritte.
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