Das Bernsteinerbe
Gespenstisch heulte der Wind auf, rüttelte an den Fensterrahmen, trieb eine Böe Schnee gegen die Glasscheiben.
»Nichts ist jemals wieder gut«, sagte Kepler leise und befreite sich aus Carlottas Umarmung. Knapp nickte er zu Helmbrecht, deutete eine hastige Verbeugung in Magdalenas Richtung an und verschwand mit weit ausholenden Schritten aus der Wohnstube.
»Kind, was hast du da nur wieder angestellt?«, raunte Magdalena und löste sich zögernd aus ihrer Ecke.
Verwundert beobachtete Lina, wie sie zu Helmbrecht trat und sich schutzsuchend an ihn schmiegte. Linas Gegenwart schien sie vollends vergessen zu haben. Lina indes genügte das leichte Seufzen Carlottas, um zu begreifen, wie sehr die junge Wundärztin das Verhalten ihrer Mutter missbilligte.
»Ich?«, platzte Carlotta entrüstet heraus. »Wieso soll ausgerechnet ich etwas Schlimmes angestellt haben?«
4
T apfer kämpfte die Kerzenflamme gegen den starken Lufthauch, der durch das weitläufige Innere des Doms wehte. Carlotta war versucht, die Hand schützend um das Licht zu wölben, um ein zu frühes Verlöschen zu verhindern. Sie beugte sich vor, doch es war nicht einfach, kniend auf dem eiskalten Steinboden die Balance zu halten. Ihr Atem brachte die Flamme noch mehr ins Flackern. Vorsichtig richtete sie sich auf und hielt die Luft an, bis sie weit genug von der Kerze entfernt war. Es dauerte nicht lange, und die Flamme gewann erneut an Größe. Gespenstisch tanzte das Licht über die weiße Grabplatte, leuchtete mal das verschwenderisch groß geschwungene G, dann das runde O oder das T im Schriftzug des im Boden eingelassenen Marmorepitaphs aus.
Carlotta verschränkte die Hände zum Gebet. Das Zittern mochte von der Kälte oder von ihrem bangen Gemüt rühren. Auch wenn sie in den letzten vier Jahren unzählige Male im Dom gewesen war, haftete diesen Besuchen stets der Ruch des Verbotenen an. Wie ein ungebetener Eindringling fühlte sie sich in dem trutzigen dreischiffigen Backsteinbau mit den zwölf dicken Pfeilern, zwischen denen seit mehr als hundert Jahren protestantisch gepredigt wurde. War das Gotteshaus nicht ursprünglich auch als Wehrkirche gedacht gewesen? Der Wehrgang mit seinen Schießscharten an der Ostwand des Hauptschiffes gemahnte noch immer daran. Nachdenklich schweifte Carlottas Blick durch das dämmrige Gemäuer. Nicht erst der Große Krieg, in dessen Wirren sich ihre Eltern einst fanden, hatte die Menschen in ihrem Glauben geteilt. Überall in der Dreistädtestadt am Pregel fanden sich Hinweise, wie zerstritten Katholische und Protestantische von alters her waren. Carlotta seufzte. Der tiefe Riss ging sogar durch die eigene Familie. Ihr in der Gruft bestatteter Vater war Protestant gewesen. Am furchtbaren Tod seiner Eltern bei der Zerstörung Magdeburgs vor mehr als dreißig Jahren trugen die Katholischen um Tilly und Pappenheim große Schuld. Magdalenas Vater war einer ihrer tapfersten Söldner gewesen. Trotzdem hatten der Vater und die Mutter gemeinsam entschieden, sie katholisch taufen zu lassen. Das wiederum machte sie in ihrer derzeitigen Heimatstadt Königsberg dem Großteil der Kaufleute suspekt. Dies würde sich gewiss auch bei der Beerdigung Gerkes zeigen, die am frühen Nachmittag stattfinden sollte und natürlich protestantisch war. Carlotta war jedoch bewusst, dass sich Magdalena nicht nur aus diesem Grund davor scheute, daran teilzunehmen. Schwerer noch wog die Angst, Mitschuld an Gerkes plötzlichem Ableben zu tragen.
Auch Christoph war katholisch, Mathias dagegen protestantisch getauft, kam Carlotta nun in den Sinn. Eine Träne rann ihr die Wange hinab. Schniefend wischte sie sie weg und hoffte inständig, dass eines fernen Tages wenigstens die Konfession keine Rolle mehr spielen würde.
Dabei hatte sie ein ganz anderes Anliegen an das väterliche Grab geführt. Am heutigen Allerseelentag sollte die brennende Kerze Eric und seinen Eltern über die Grenzen der Glaubensgemeinschaften hinweg himmlischen Beistand bescheren. Lautlos betete sie ein Paternoster, ging über in ein Credo in Deum und schloss schließlich ein Ave-Maria an. Mit jeder Zeile fiel es ihr jedoch schwerer, die Gedanken zusammenzuhalten. Zwar bewegten sich ihre schmalen Lippen folgsam mit, doch der Kopf schwirrte ihr von zu vielen anderen Dingen, als dass sie die Worte mit Andacht formte. Abrupt hörte sie mit dem Beten auf.
»Ach, Vater«, flüsterte sie Richtung Grabplatte, »wärst du doch bei mir und könntest mir helfen. Was soll ich bloß
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