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Das Bernsteinerbe

Das Bernsteinerbe

Titel: Das Bernsteinerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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tun?«
    Es kostete sie Mühe, ein lautes Aufschluchzen zu unterdrücken. Seit Erics Tod vor vier Jahren war sie nicht mehr derart verzweifelt gewesen wie in den letzten Tagen. Sie presste die zittrigen Finger gegen den Mund, nahm kaum die klamme Kälte wahr, die ihre Glieder steif werden ließ. Mit einem Mal sprudelten ihr die Worte aus dem Mund, als läge ihr Vater nicht tot, sondern äußerst lebendig in dem steinernen Grab zu ihren Füßen.
    »Ich weiß nicht mehr weiter, Vater. Vor kurzem noch war alles so einfach: Christoph ist von seiner Studienreise zurückgekehrt, und gleich war alles zwischen uns wieder so wie früher. Es gab viel Lustiges zu erzählen, doch er hat mir auch so einiges von dem gezeigt, was er in der Fremde gelernt hat. Zuletzt hat er mich sogar zu den Patienten mitgenommen. Nicht nur dank Caspar Pantzer ist ihm mein besonderes Gespür für Kranke aufgefallen. Ich glaube, er begreift allmählich, worum es mir geht. Längst ist übrigens mehr zwischen Christoph und mir.«
    Sie spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen, und hielt verlegen inne. Dabei gab es nicht den geringsten Grund, sich ihrer Gefühle für Christoph zu schämen. Körperliches Verlangen war dem Vater nicht fremd gewesen. Nie hatte er einen Hehl aus seiner Liebe zu Magdalena gemacht, sie gar offen vor Carlottas Augen geküsst.
    »Letzte Woche hat er mich gefragt, ob ich ihn heiraten will«, fuhr sie leise fort. »Stell dir vor: Der junge Medicus, Sohn des ehrwürdigen Ludwig Kepler, seines Zeichens kurfürstlicher Leibarzt aus der Königsberger Altstadt, will mich, die einfache Wundärztin aus dem Kneiphof, zur Frau nehmen! Natürlich will ich das auch! Letzten Montag wollten wir mit seinem Vater darüber reden, du weißt schon, dem alten Griesgram aus der Schmiedegasse. Sicher wäre der nicht begeistert gewesen, weil er Wundärzte nicht mag und Wundärztinnen wie mich schon gleich gar nicht. Aber Christoph meint, das wäre ihm einerlei. Er würde mich zur Frau nehmen, was auch immer sein Vater davon halte. Wenn er sich gar zu sehr sträuben und ihm die Nachfolge als Stadtphysicus verwehren würde, könnten wir zwei schließlich auch woanders hingehen. Gute Medici und Wundärzte sind überall gefragt.«
    Mit jedem Wort war ihre Stimme fester geworden. Sie legte abermals eine Pause ein, zupfte an ihrem Rock und blickte durch die Weite des leeren, dämmrigen Doms. Der fahle Novembermorgen gewährte nur einem spärlichen Lichtstrahl Einlass durch die hohen Glasfenster. Das Innere der schlicht ausgestatteten Kirche nahe der ehrwürdigen Universität versank in tristem Grau. Kaum hoben sich die Konturen der herzoglichen Gräber an den Wänden davon ab. Selbst das Chorgestühl und der Altar lösten sich in unbestimmten dunklen Schatten auf. Einzig das riesige Holzkreuz mit dem leidenden Jesus war deutlicher zu erkennen. Während Carlotta in den Chor schaute, meinte sie, die steinernen Figuren Albrechts I. und Dorotheas erwachten auf ihrem Denkmal plötzlich zum Leben. Was, wenn sie von ihren Sockeln herunterstiegen und auf sie zuschritten? Klopfenden Herzens senkte sie den Kopf und beobachtete wieder die Kerzenflamme auf dem Grab, die sich gegen jeden Luftzug behauptete. Carlotta atmete tief durch. Es war Zeit, dem Vater im Grab die ganze Wahrheit zu sagen. Niemandem sonst konnte sie sich anvertrauen. »Dann aber sind die Kurfürstlichen in den Kneiphof eingedrungen. Seither ist nichts mehr, wie es war.«
    Von neuem versagte ihr die Stimme. Gegen ihren Willen musste sie nun doch tief aufschluchzen. Erschrocken presste sie sich die Faust gegen die Lippen und verharrte, angespannt bis in die kleinste Faser ihres Leibes.
    Die Kerzenflamme wurde gefährlich klein, legte sich schräg, schlang sich eng um den schwarzen Docht, bis sie schließlich doch den neuerlichen Aufstieg in die Höhe schaffte. Die Erregung in Carlottas schmächtigem Leib ließ nach. Der Drang, dem unter der schweren Marmorplatte in alle Ewigkeit ruhenden Vater ihr Herz vollständig auszuschütten, gewann die Oberhand. Schon als Kind hatte sie es genossen, ihm alles, was ihr durch den Kopf ging, bis in die kleinsten Einzelheiten zu erzählen. In Königsberg war ihr nur sein Grab geblieben, um sich Erleichterung zu verschaffen.
    »Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal an Mathias gedacht habe.« Nachdenklich sah sie auf. »Fast war es schon, als hätte es ihn nie gegeben. Unser Leben damals in Frankfurt, der Zank mit Tante Adelaide, die beschwerliche Reise

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