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Das Bernsteinerbe

Das Bernsteinerbe

Titel: Das Bernsteinerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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direkt über sich zu hören. Angestrengt suchte sie das Gewölbe oberhalb ihres Kopfes ab und erspähte einen schwarzen Schatten, der vor einem der oberen Fenster seine Kreise zog. Ein Vogel! Für einen Raben war er zu klein, wie sie erleichtert feststellte. Eine Drossel vielleicht. Sie konnte es nicht genau erkennen. Verzweifelt flog das Tier immerzu gegen die Scheibe. Der letzte Stoß mit dem winzigen Kopf gegen das harte Glas war zu stark. Wie ein Stein sank der schwarzgefiederte Vogel nicht weit von Carlotta zu Boden.
    »Was soll ich nur tun, Vater?« Klopfenden Herzens wandte sie sich wieder der im Boden eingelassenen Grabplatte zu, buchstabierte leise die Lebensdaten des Vaters, wiederholte mehrfach die Namen seiner nie gekannten, grausam in Magdeburg gemarterten Eltern. »Ich kann doch von Christoph nicht lassen«, hauchte sie gegen den blanken Marmor. »Ohne ihn werde ich es niemals schaffen, Medizin zu studieren oder gar eine richtige Ärztin zu werden! Er bringt mich zum Lachen, macht mich die dunklen Seiten des Lebens vergessen – bis Mathias wieder da ist. Und mit ihm all das lang Vergessene. Das kann ich doch auch nicht ungeschehen machen. Nicht einmal der blaue Rock und die Farben des Kurfürsten ändern etwas daran. In seiner blinden Wut dauert er mich. Seine schreckliche Verlassenheit rührt mich, ebenso sein Kummer ob des Alleinseins und die Trauer um seine Mutter Adelaide, von der er glaubte, sie für immer verloren zu haben. Wenn ich ihn jetzt wieder ziehen lasse, so wie damals, kurz vor Thorn, bricht mir das Herz. Nicht einmal Christoph mit all seinem Medicuswissen kann das verhindern. Ach, Vater, was mache ich nur?«
    Schon wollte sie sich von neuem zu Boden sinken lassen und dem Weinen hingeben, da schreckte sie ein lautes Poltern im Eingangsbereich des Domes auf. Sie fuhr herum und blinzelte in das dämmrige Licht des mittleren Kirchenschiffs. Nichts. Mit allen Sinnen konzentrierte sie sich. Laut pochte ihr das Blut in den Ohren. Die Stille, die rings um sie eingekehrt war, nahm sie darüber kaum mehr wahr.
    Da war etwas gewesen, ganz deutlich spürte sie das. Es musste jemand in den Dom gekommen sein. Carlotta tastete nach dem Bernstein. Bevor sie zum Grab gegangen war, hatte sie alle Winkel abgesucht und niemanden entdeckt. Nicht einmal ein gramgebeugtes Mütterlein war da gewesen, das trotz protestantischen Bekenntnisses am heutigen zweiten Tag des Novembers für die Seelen der Toten Fürbitte leistete. Eigentlich, schoss Carlotta unvermittelt durch den Kopf, war der Donnerstag ein guter Tag. Zumindest behauptete Hedwig das. Er brachte Glück – oder zumindest nichts Schlimmes. Ihr Herz raste. Das Poltern hatte bedrohlich geklungen. Sie sollte nachsehen. Das Gespräch mit dem toten Vater war ohnehin zu Ende.
    Das Familiengrab der Grohnerts befand sich zusammen mit weiteren Gräbern alteingesessener Kneiphofer Bürgerfamilien im rechten Seitenschiff. Von dort aus konnte man das Kircheninnere schwer überblicken, wurde auch selbst kaum vom Mittelschiff aus gesehen. Auf Zehenspitzen schlich Carlotta zur nächsten Säule. In deren Schutz wagte sie einen ersten Blick ins Hauptschiff, besah sich Reihe um Reihe das schwere, trutzige Kirchengestühl.
    Fahl fiel das Licht durch die hohen Bogenfenster, tauchte den langgezogenen Raum in schleierhafte Düsternis. Sie musste zum Westportal. Wenn jemand hineingegangen war, verharrte er noch dort. Falls nicht, konnte sie von dort schnell nach draußen. Sie arbeitete sich von Säule zu Säule nach Westen. In Höhe der letzten Kirchenbank hörte sie ein leises Wimmern. Gebannt lauschte sie. Es kam von der Mitte des Kirchenschiffs.
    Zögernd löste sie sich aus dem Schutz der mächtigen Säule und tastete sich langsam mit der Hand an der Kirchenbank entlang. Je näher sie dem Mittelgang kam, desto heller wurde es. Das Novemberlicht zeichnete ein Spiel aus Grautönen und Schatten auf den schlichten Steinboden.
    Endlich fand Carlotta, was sie aufgeschreckt hatte: In der vorletzten Bankreihe kugelte sich jemand wie ein Igel zusammen. Leise näherte sie sich ihm, rasch war ihr klar, dass derjenige mehr Furcht vor Entdeckung hatte als sie.
    »Keine Angst, ich tue Euch nichts«, flüsterte sie. »Kann ich Euch helfen?«
    Behutsam legte sie die Hand flach auf den bibbernden Rücken. Das Wimmern wurde leiser, die Anspannung entwich dem mageren Körper. Einige Atemzüge später hob der Fremde vorsichtig den Kopf. Bei ihrem Anblick versiegte seine Furcht.
    Der Mann

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