Das Bernsteinerbe
hierher – all das schien wie aus einer anderen Zeit. Wenn nicht Helmbrecht regelmäßig bei Mutter auftauchen würde, hätte ich das alles längst vergessen. Aber das ist eine andere Geschichte.« Abermals hielt sie inne. »Erst im Gespräch mit Lina letztens ist mir eingefallen, dass da etwas mit Mathias gewesen ist. Trotzdem war er weit, weit weg – bis er plötzlich leibhaftig vor mir stand! Das war, als die Dragoner des Kurfürsten den tapferen Roth gefangen gesetzt haben. Mitten unter ihnen hockt er da auf seinem hohen Ross. Ausgerechnet die Farben Friedrich Wilhelms trägt er jetzt.«
Mit jeder Silbe war ihre Stimme lauter geworden. Der Klang verfing sich im schlichten Gewölbe des Seitenschiffs. Carlotta meinte, der Luftzug trüge die Worte zwischen den Ritzen der Türen davon, verbreitete sie anklagend über den Domplatz und von dort aus über den gesamten Kneiphof. Sie schloss die Augen und lauschte bangen Herzens, bis die Stille in das ehrwürdige Backsteingemäuer zurückkehrte.
»Mit seinen dunklen, fast schwarzen Augen hat er mich so durchdringend angesehen wie eh und je«, wisperte sie weiter. »Bis auf den tiefsten Grund meiner Seele hat er geschaut. Dass Christoph an meiner Seite war, hat ihn wütend werden lassen. Beschimpft hat er ihn. Was fällt ihm ein? Christoph ist der wichtigste Mensch in meinem Leben! Nie hat er mir Böses getan. Bei Mathias war das anders. Ach, dabei ist das alles schon vorbei gewesen! Am Montag aber ist es wieder aufgebrochen wie eine schlechtverheilte Wunde. Nein, schlimmer noch: Jetzt scheint es viel wirklicher zu sein als ehedem: die endlosen, langweiligen Jahre in Frankfurt, der ewige Kampf mit Mathias im Kontor, sein freches Grinsen, wenn er mich dabei ertappt hat, wie ich heimlich zu Apotheker Petersen ins Laboratorium geschlichen bin.«
Ein weiteres Mal musste sie vor Aufregung nach Luft schnappen. Mit belegter Stimme redete sie weiter: »Auch das widerliche Gegrapsche damals im halb abgerissenen Haus seiner Eltern, sein lächerlicher Versuch, mich erst in Erfurt in einer dunklen, stinkigen Gasse, dann später in dem Wirtshaus mitten im unheimlichen Spreewald zu verführen, steht mir wieder vor Augen. Dabei hatte ich das vergessen, mich immerzu gezwungen, allein die guten letzten Stunden mit ihm im Spreewald in Erinnerung zu behalten.«
Bei diesen Worten schüttelte sie abermals ein wildes Schluchzen. Ähnlich der Kerzenflamme sackte sie kraftlos in sich zusammen, landete mit weit zur Seite ausgebreiteten Armen auf der eiskalten Grabplatte. Das Gesicht auf den Marmor gebettet, weinte sie hemmungslos. Erst nach einer unendlich scheinenden Weile versiegten die Tränen. Wie aus einem bösen Traum erwachend, stützte sie sich auf und sah sich verwundert um.
Noch immer war sie mutterseelenallein in der düsteren Weite des Doms. Langsam erhob sie sich auf die Knie. Ihr Herz klopfte. Wieder beschlich sie das schlechte Gewissen, ein ungebetener Gast in der protestantischen Kirche zu sein. Sie fröstelte und zog den Umhang enger um die Schultern. Ihr Atem verwandelte sich in kleine Wolken. Sie senkte das Antlitz. Die Kerze brannte weiter, vielleicht ein Zeichen, dass irgendwer weit oben ihr Flehen erhörte, auch wenn sie als Katholische am Grab ihres lutherischen Vaters betete. Sie wischte die Wangen trocken.
»Damals ist Mathias mit einem Mal völlig anders zu mir gewesen«, setzte sie zögernd fort. »Dort im Spreewald, als Helmbrecht diesen schrecklichen Anfall hatte, muss etwas mit ihm passiert sein. Von da an hat er mich verteidigt, ist mir ein echter Freund geworden. Wie ein Schutzengel hat er bei mir gewacht. Dann aber mussten Mutter und ich die Reisegruppe Tante Adelaides wegen verlassen. Seither habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
Wieder beobachtete sie die Kerzenflamme, die sich mühsam gegen den eisigen Hauch, der durch die leere Kirche wehte, behauptete.
»Ach, was rede ich da für einen Unsinn!«, brauste sie auf. »In Wahrheit hat Mathias sich wohl nie geändert. Warum sonst ist er Montagabend noch bei uns im Haus aufgetaucht? Reine Rachsucht ist das gewesen! Er hätte sich doch denken können, Mutter mit seinem unangekündigten Auftauchen ausgerechnet in den Farben der Preußen zu Tode zu erschrecken. Und Christoph hat er tatsächlich mit dem Tod bedroht!«
Ein Geräusch schreckte sie auf. Zunächst meinte sie, es käme von der Westfront. Womöglich hatte jemand das Portal geöffnet. Nein, Schritte waren das nicht. Schon meinte sie, das Geräusch
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