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Das Bernsteinerbe

Das Bernsteinerbe

Titel: Das Bernsteinerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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war kaum älter als sie. Selbst im dämmrigen Licht der Kirche war zu erkennen, wie spärlich sich der erste Bartflaum auf dem glatten Gesicht abzeichnete. Dafür gab es andere, fürchterliche Spuren auf dem blassen Antlitz: Striemen und dunkle Flecken deuteten auf heftige Schläge, die schreckgeweiteten hellen Augen spiegelten blankes Entsetzen. Prüfend wanderte Carlottas Blick über die restliche Gestalt. Der schwarze Mantel war dreckbespritzt, am rechten Ärmel zog sich ein hässlicher Riss nahezu über die gesamte Länge. Der Stoff des ehemals weißen Hemdes blitzte durch. An Saum und Aufschlägen war abzulesen, dass der Jüngling enge Bekanntschaft mit dem schlammigen Straßenpflaster gemacht haben musste. Die schlichten Kniebundhosen zeugten ebenfalls davon, auch das Leder der Stulpenstiefel mochte bereits bessere Tage als diesen gesehen haben. Seinen Hut hatte er offenbar verloren. In den zerzausten braunen Haaren fand sich der Abdruck eines viel zu eng sitzenden Hutbands.
    »Ihr seid Pennäler an der hiesigen Universität, nicht wahr?« Sie bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln. »Die älteren Studenten haben Euch ordentlich drangsaliert, bis Ihr Euch nicht anders zu helfen wusstet, als in den Dom zu fliehen.«
    »W-w-oher w-w-wisst Ihr …?« Noch wollte ihm seine Stimme nicht gehorchen. Nervös knetete er die Finger.
    »Oh, das zu erraten, genügt mir Euer Aufzug. Wenn man lange genug in der Nachbarschaft der Universität lebt, bekommt man mit, wie die Senioren der einzelnen Nationen mit den jüngeren Kommilitonen umspringen.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Außerdem bin ich Wundärztin. Gelegentlich geschieht es, dass ich einen der armen Pennäler nach einer solchen Behandlung als Patienten vor mir habe. Auch dadurch weiß ich, was jenseits der gelehrten Disputationen und Vorlesungen unter den Studenten vorgeht. Am besten, Ihr begleitet mich nach Hause. Dort bereite ich Euch ein Pflaster und sehe mir auch die restlichen Stellen Eures Körpers an, an denen Euch die Stockhiebe getroffen haben.«
    »Nein!« Offenes Misstrauen verdrängte das Entsetzen in seiner Miene.
    »Ja, ich weiß«, lenkte sie ein, »Ihr glaubt mir nicht, dass ich wirklich Wundärztin bin. Natürlich tut Ihr gut daran, vorsichtig zu sein. Immerhin bin ich noch sehr jung und nicht eben eine beeindruckende Erscheinung. Meine Mutter hat das Handwerk ebenfalls gelernt. Ihr könnt Euch auch ihr anvertrauen, wenn Euch das lieber ist. Ich dränge Euch zu nichts. Überlegt es Euch. Ich jedenfalls verlasse jetzt den Dom und gehe nach Hause. Falls Ihr mitkommt, ist es gut, falls nicht, so bin ich Euch nicht gram. Solltet Ihr später nachkommen wollen, so findet Ihr mich hier im Kneiphof in der Langgasse, auf der westlichen Seite kurz vor der Krämerbrücke. Mein Familienname ist Grohnert. Meine Mutter ist Inhaberin des vormals Singeknecht’schen Kontors.«
    Sie nickte ihm noch einmal zu, schlang den Schal um Kopf und Hals und wandte sich zum Gehen.
    »Wartet!« Hastig sprang der Student auf. »Ich komme gleich mit.« Verwirrt tastete er mit den Händen umher, offensichtlich auf der Suche nach dem verlorenen Hut. Verlegen zuckte er die Schultern, lächelte scheu und bedeutete Carlotta, dass sie losgehen konnte.
    Zu ihrer Verwunderung hielt er sich bereits auf dem Gang zur Tür halb hinter ihr verborgen. Da er keine Anstalten machte vorzutreten, drückte sie selbst die Klinke. Den schweren, hohen Flügel zu öffnen, erforderte viel Kraft. Dennoch sprang ihr der Student auch jetzt nicht bei. Sie beschloss, sich nicht über die Ungezogenheit zu ärgern. Der heftige Wind wehte ihr eine ordentliche Portion Schnee ins Gesicht. Sie prustete und spuckte das kalte Nass rasch wieder aus, wich noch einmal ins Kircheninnere zurück.
    »Raus mit Euch«, ermunterte sie den Pennäler. »Oder fürchtet Ihr, in der Kälte zu Eis zu erstarren? Dabei macht Ihr Euch als Schneemann bestimmt gut. Nur etwas rundlicher müsstet Ihr sein. Und vor allem freundlicher schauen. Aber das werdet Ihr wohl noch lernen. Übrigens braucht Ihr Euch keine Sorgen mehr machen«, sie warf einen prüfenden Blick über den Vorplatz des Doms, »Eure Kommilitonen fürchten den Schnee und den Frost nicht weniger als Ihr. Jedenfalls kann ich niemanden entdecken, der Euch auflauert. Längst werden sich die Burschen in ein Wirtshaus verkrochen haben.«
    »Wenn Ihr meint.« Schulterzuckend schob sich der Pennäler an ihr vorbei durch die Tür, blieb jedoch schutzsuchend am Pfeiler rechts

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