Das Bernsteinerbe
vom Portal stehen.
»Worauf wartet Ihr?« Ungeduldig trat sie von einem Fuß auf den anderen. »Oder sollen etwa die kurfürstlichen Dragoner zurückkommen, um Euch vor Euren Kommilitonen zu beschützen?«
»Das wäre gar nicht so schlecht«, erwiderte er und blickte sie treuherzig an. »Das sind wohl die Einzigen, vor denen sie Respekt haben.«
Carlotta stutzte und musterte noch einmal gründlich sein blasses, unschuldiges Gesicht. Schon fragte sie sich, ob sie sich in dem Burschen getäuscht hatte. Vielleicht war er gar kein Student, sondern einer, der für die Kurfürstlichen Stimmung im Kneiphof machte. Kein Wunder, wenn er dafür Prügel bezogen hatte. Trotzdem konnte sie ihn nicht allein zurücklassen. Als Wundärztin musste sie helfen, selbst wenn es sich um den Todfeind handelte.
»Ich glaube nicht, dass Ihr wisst, was es heißt, sich mit dem Teufel zu verbinden, um die eigene Haut zu retten«, sagte sie knapp und schickte sich an zu gehen. Endlich löste er sich aus dem Schatten des Pfeilers und folgte ihr.
5
D em dichten Schneegestöber zum Trotz war es im Kneiphof hell geworden. Hie und da zeichnete sich gar eine flüchtige Ahnung von Sonne zwischen den grauen Wolkengebirgen ab. Carlotta raffte die Zipfel ihrer Heuke über der Brust zusammen und stapfte los. Dank der Patten unter den Stiefeln versank sie nicht im Schnee, der bereits knöchelhoch das Straßenpflaster bedeckte. Aus dem lauter werdenden Knirschen schloss sie, dass der Student ihr folgte.
»Hofft Ihr wirklich auf die Kurfürstlichen?«, fragte sie schließlich, als sie den menschenleeren Platz vor dem Dom fast überquert hatten. Solange man am helllichten Tag Gefahr lief, blauberockten Söldnern des Kurfürsten in die Hände zu fallen, verließ keiner freiwillig sein Haus.
»Ich bin kein Verräter«, stieß der Student aus. Das klang eher trotzig denn überzeugt. »Wie ich Euch eben schon gesagt habe: Ich denke eben, es gibt derzeit niemand anderen, der in der Stadt für Ordnung sorgen kann.«
»Woran das liegt, interessiert Euch wohl nicht sonderlich.«
»Ich stamme nicht von hier. Mein Studium hat mich an den Pregel geführt. In den letzten Tagen habe ich genug gesehen, um zu wissen, wie gut ich daran tue, mich auch weiterhin allein auf meine Studien zu konzentrieren.«
»Wollen wir hoffen, es gelingt Euch«, beendete sie die kaum begonnene Unterhaltung. Zu groß war die Wut, die in ihr aufstieg. Wenn sie sich noch länger mit dem Pennäler über die derzeitige Lage unterhielt, entschlüpfte ihr gewiss etwas Ungebührliches. Sie wollte ihm jedoch die Wunden versorgen und keine Dispute mit ihm führen. Sie beschleunigte ihre Schritte, der Student hielt keuchend mit.
»Roth bleibt auch vor dem Kurfürsten standhaft«, drang bald eine schrille Halbwüchsigenstimme an ihre Ohren. An der Ecke zur Goldenen Gasse drückte sich ein Zeitungsjunge in einen Torbogen und schwenkte die neueste Ausgabe des Europäischen Mercurius in der Hand. Eine Handvoll Männer umringte ihn und diskutierte eifrig. So dicht als möglich spazierte Carlotta an der Gruppe vorbei in der Hoffnung, weitere Nachrichten über das Befinden des tapferen Schöppenmeisters aufzuschnappen. Doch sobald sie ihres Näherkommens gewahr wurden, schwiegen die Männer und warteten, bis sie vorüber waren. Der Student tat, als merkte er nichts davon. Schweigend stapfte Carlotta weiter voran über das nasse Pflaster. An der Ecke zur Schuhgasse kreuzte ein buckliges Weib ihren Weg. Es zog einen laut scheppernden Handkarren über die holprigen Steine. Obenauf thronte eine fette Gans.
»Wohin so eilig, ihr zwei Hübschen?«, krächzte sie aus ihrem zahnlosen Mund und versperrte den Weg. Das Gesicht war von Runzeln übersät, auf der Nasenspitze prangte eine haarige Warze. Neugierig musterte sie Carlotta und den von der Rauferei deutlich gezeichneten Studenten von Kopf bis Fuß, um dann breit zu grinsen. »Braucht ihr Kräuter oder Säfte? Kommt nachher rüber zu mir in den Haberberg. Gleich bei der Kirche findet ihr mich. Fragt nur nach der alten Bertram. Jedes Weib dort kennt mich. Ihr könnt euch denken, warum.« Keckernd lachte sie in sich hinein und rumpelte mit ihrem Karren von dannen.
»Armes Mütterlein«, murmelte Carlotta. Dem Studenten war die ganze Angelegenheit hochnotpeinlich. »Verzeiht, ich wollte nicht … Es tut mir leid, dass die Alte jetzt von Euch denkt, Ihr … Also, ich bedauere zutiefst, wenn Ihr meinetwegen in ein falsches Licht …«, stammelte er
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