Das Beste aus 40 Jahren
ihren Namen murmelte, war eine Sache, ein richtiges Gespräch eine völlig andere. Sie hatten sich doch früher nichts zu sagen gehabt!
Aber das Mädchen konnte ihr, egal, was es sagte, nun nichts mehr anhaben, ihr nicht noch mehr Schmerz zufügen.
Während ihr bewusst war, dass alle Blicke auf ihr ruhten, ging Anastasia zurück zum Bett. Zu jedem Schritt musste sie sich förmlich zwingen, und schließlich stand sie neben Rico und blickte auf seine kleine Schwester.
„Hallo, Chiara!“ Auch ihre Stimme klang heiser. „Ich bin so froh, dass du endlich aufgewacht bist. Wir alle haben uns große Sorgen um dich gemacht.“
„Anastasia!“ Das Mädchen lächelte schwach, dann schloss es die Augen. „Schöne Anastasia! Wenn es mir wieder besser geht, können wir dann zusammen einen Einkaufsbummel machen? Du siehst immer so toll aus! Kannst du mir nicht beibringen, wie man sich richtig anzieht?“
Schockiertes, ungläubiges Schweigen herrschte rund ums Krankenbett.
Anastasia wusste nicht, was sie antworten sollte. Warum hatte Chiara die Bitte ausgesprochen? Wollte das Mädchen ihr etwa wehtun, indem sie Bewunderung heuchelte? Sie musterte es eindringlich, entdeckte aber nicht den Sarkasmus von früher, auch keine Zeichen von Aufsässigkeit, die für den Teenager noch vor einem Jahr so typisch gewesen waren.
Chiara fiel die Stille auf, und sie öffnete die Augen wieder. Ihr Blick war argwöhnisch und zugleich so verwirrt, als spürte sie, dass etwas nicht stimmte.
„Was ist denn?“, fragte sie nun. „Habe ich was Falsches gesagt?“
„Aber nein, Kleines“, beruhigte Rico sie schnell und legte die Hand auf ihre. „Wie fühlst du dich?“
Sie schnitt ein Gesicht. „Der Kopf tut mir weh. Warum seid ihr eigentlich alle hier? Was ist passiert?“
Rico runzelte besorgt die Stirn. „Du hattest einen Unfall. Erinnerst du dich nicht?“
„Nein“, antwortete sie nach kurzem Nachdenken. „Ich erinnere mich nur, dass du sehr wütend warst, als ich so unerwartet bei euch aufgetaucht bin, wo ihr doch jetzt in den Flitterwochen lieber allein sein wollt. Bist du mir noch böse, Bruderherz?“
Er stand so reglos da, als wäre er aus Stein gehauen, seine Mutter stöhnte leise. Anastasia rechnete schnell nach: Der Vorfall, auf den Chiara sich bezog, lag eineinhalb Jahre zurück!
Was sollte das? Welches Spielchen trieb das Mädchen jetzt schon wieder?
Jedenfalls merkte Chiara, wie angespannt die Atmosphäre war. „Rico, bist du mir noch böse?“
„Nein, Kleines, das bin ich nicht.“ Forschend betrachtete er sie. „Ist es wirklich das Letzte, woran du dich erinnerst? Wie wütend ich war, weil du mich und Anastasia gestört hast?“
„Ja. Warum willst du das so genau wissen?“, fragte Chiara verwirrt.
„Ach, nur so.“ Er lächelte beruhigend, und sein Ton verriet nicht, welche Sorgen er sich ganz offensichtlich machte. „Ich muss jetzt mit den Ärzten sprechen. Und du zerbrich dir den Kopf nicht noch mehr“, fügte er mühsam scherzend hinzu.
Als die Ärzte, von Rico alarmiert, im Krankenzimmer erschienen, zog sich die Familie wieder einmal ins Besucherzimmer zurück, wo sie angespannt wartete.
Es dauerte nicht lang, bis Rico ans Krankenbett gerufen wurde, und kurz darauf kam er wieder in den Warteraum, bedrückter wirkend, als Anastasia ihn jemals gesehen hatte.
„Die Diagnose lautet Amnesie, also Gedächtnisverlust“, teilte er seiner Mutter mit. „Das ist nach solchen Kopfverletzungen nichts Ungewöhnliches. Chiara kann sich an nichts erinnern, was seit dem Tag passiert ist, den sie vorhin erwähnte, als Anastasia und ich …“, er unterbrach sich kurz und fügte mühsam hinzu: „… als wir hier in der Villa unsere Flitterwochen verbrachten.“
Alle sahen zu Anastasia, die heiß errötete. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag! Sie und Rico hatten ihn am Strand verbracht. Sie waren geschwommen … und vor allem hatten sie sich immer wieder leidenschaftlich geliebt. Als sie schließlich, müde von Sonne und Sinnlichkeit, zum Haus gegangen waren, hatten sie dort Chiara im Pool entdeckt.
Rico war tatsächlich sehr zornig geworden. Anastasia war zwar enttäuscht gewesen, dass die Zweisamkeit gestört wurde, aber sie legte für das Mädchen ein gutes Wort ein, und es durfte übers Wochenende bleiben.
An dem Montag wurde Chiara von Rico in die Schule zurückgeschickt, mit der Ermahnung, sich intensiver aufs Lernen zu konzentrieren.
Wenn es das Letzte ist, woran Chiara sich erinnert, fehlen
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