Das beste Rezept meines Lebens: Roman (German Edition)
bedeutsamer Moment in meinem Leben gewesen, ein Augenöffner, der alles veränderte. Das Ende der Unschuld sozusagen. Aber so war es nicht. Ich ging einfach weiter bis zum Ende des Flurs und vergaß das Ganze. Bis jetzt.
»Ich kann nicht behaupten, dass ich je verstanden hätte, was Lucia an ihm fand«, fuhr meine Mutter fort. »Aber ich beschloss, mich auch in dieser Hinsicht auf ihr Urteil zu verlassen. Ich wollte auf keinen Fall riskieren, Lucia – und Annie! – zu verlieren, indem ich Curtis wegschickte. Das kam nicht infrage.«
»Aber Mom«, sagte ich, »wir haben Lucia und Annie doch schon vor Jahren verloren. Warum hast du Curtis danach nicht entlassen, wenn du ihm nicht wirklich vertraust?«
Der Blick meiner Mutter wurde weich, und auch ihre Stimme klang plötzlich ganz sanft. »Nun, Lucia hat ihn geliebt. Und ich habe sie sehr vermisst. Sie war eine so liebe Freundin. Im Grunde hat sie sich um uns alle gekümmert, nicht nur um dich und Annie. Curtis hierzubehalten gab mir das Gefühl, Lucia immer noch um mich zu haben, ihr auch nach ihrem Tod nah zu sein. Ich hätte es nicht verkraftet, euch alle auf einen Schlag zu verlieren.«
Ich dachte daran zurück, wie meine Mutter in dem Jahr, in dem Lucia gestorben und Annie und ich zum Studium weggezogen waren, munter wie eh und je durch unser riesiges Haus stöckelte. Der Gedanke, dass es ihr genau wie mir vor der gähnenden Stille im Haus gegraut haben könnte, war mir nie gekommen. Ich stellte mir meine Mutter immer in Eile vor, immer geschäftig und gut organisiert – ein Mensch, der unproduktive Gefühle wie Einsamkeit oder Traurigkeit nie allzu lange an sich heranließ.
Als hätte sie in meinen Gedanken gelesen, setzte sich meine Mutter noch etwas aufrechter hin und spielte mit dem dünnen Goldarmband ihrer Uhr. »Das war natürlich ziemlicher Quatsch, denn ich erinnere mich noch gut daran, dass sich das Verhältnis zwischen Lucia und Curtis im Herbst vor ihrem Tod ein wenig abgekühlt hatte. Also bitte, wenn du unbedingt die Wahrheit hören willst: Ich bin eine sentimentale Närrin, und ich könnte es nicht ertragen, ihn wegzuschicken.« Sie machte eine ungehaltene Handbewegung. »Nein, nein. Der eigentliche Narr ist dein Vater. Er hängt sehr an Curtis. Wenn Curtis versuchen würde, ihm das Hemd vom Leib zu stehlen, würde er womöglich noch zu seinem Kleiderschrank rennen, um ihm eine größere Auswahl anzubieten.«
Mir fiel die Kinnlade herunter. »Du glaubst also tatsächlich, dass Curtis hinter alledem steckt? Warum hast du denn nichts gesagt? Warum hat ihn niemand darauf angesprochen?«
»Aber Julia, Liebes, was würde das bringen?«, fragte meine Mutter leichthin. Sie stand auf und musterte mit hochgezogenen Augenbrauen ihre Stirn im Spiegel über dem Nachttisch. Wahrscheinlich überprüfte sie, ob diese unangenehme Unterhaltung sie in irgendeiner Weise hatte altern lassen. »Auf das Geld kommt es uns nicht an. Wenn er es so unbedingt braucht, soll er es haben. Inzwischen ist er ja fast so etwas wie ein Familienmitglied.«
Unsere Blicke trafen sich im Spiegel. »Wenn er uns bestiehlt«, sagte ich, »beruht dieses Gefühl wohl nicht auf Gegenseitigkeit.«
Ihre Mundwinkel zuckten. Sie sah mich eine ganze Weile im Spiegel an, bevor sie sich zu mir umdrehte. »Liebling«, sagte sie, ohne den Kummer in ihrer Stimme zu verbergen, »ich fürchte, da hast du Recht.«
Nachdem wir an diesem Abend den Laden abgeschlossen und ich Annie vor ihrer Wohnung abgesetzt hatte, holte ich einen Zettel aus der Handtasche und knipste das Deckenlicht meines Wagens an. Es war eine Liste mit den Kontaktadressen aller unserer Hausangestellten, die ich am Morgen nach dem Gespräch mit meiner Mutter im Arbeitszimmer meines Vaters ausgedruckt hatte. Mein Finger fuhr langsam über die Namen, bis ich Curtis fand. Ich wusste, dass er irgendwo in Daly City wohnte, doch besucht hatte ich ihn dort noch nie. Genauso wenig wie meine Eltern, nahm ich an.
Es war 22 Uhr – ziemlich spät für einen unangekündigten Besuch. Aber ich wusste, dass meine Eltern nicht ausgegangen waren und nirgendwo abgeholt werden mussten, also war Curtis höchstwahrscheinlich zu Hause. Ich konnte selbst nicht sagen, was ich eigentlich von ihm wollte. Jedenfalls hatte ich nicht vor, ihn in Verlegenheit zu bringen oder die ganze Situation noch unangenehmer zu machen, indem ich ihn bei uns zu Hause auf die Diebstähle ansprach. Erst einmal wollte ich die Wahrheit von ihm hören. Vermutlich wollte ich
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