Das Bett
trösten vermochte. In der Totenwelt hatte die Dauer ein freundlicheres Gesicht als in ihrem Leben. Hier herrschte friedliche Gewohnheit und beruhigende Endgültigkeit, und es stellte sich niemals mehr die Frage, wie es das sonst beinahe täglich tat, wie lange ihr Körper noch den Belastungen, die in einer Welt des allgemeinen Glücks auf ihre Schultern allein getürmt worden waren, würde standhalten können. Meine Tante wußte, wie sündhaft es war, das eigene Ende herbeizusehnen, und sie bat niemals, auch in schwachen Stunden nicht, um die Gnade einer frühen Abberufung von der Erde, wie sie sich ausgedrückt hätte, aber sie erlaubte sich doch, im Gewand kindlich liebevoller Pietät durch die Pflege der Gräber und der hinterlassenen Andenken nicht nur den Toten, sondern auch dem Tod selbst kleine Zeichen von Sympathie zu geben.
Ich habe nicht herausbekommen, ob dem Monsignore von seiner Kanzel aus die rastlose Beschäftigung meiner Tante aufgefallen war. Wir saßen ihm jedenfalls vor der Nase, und es lag nahe, daß er, anstatt seinen Blick in den verschwimmenden Gesichtern der anonymen Menge versickern zu lassen, sich das nächstgelegene Gegenüber aussuchte, um es gleichsam persönlich anzusprechen und damit auch eine Art von Kontrolle seiner Wirkung ausüben zu können, die in der Kirche, in der Beifalls- |472| und Mißfallenskundgebungen entfallen, auch dem erfahrenen Kanzelredner nicht immer leichtfällt. Hinzu kam, daß er meine Tante kannte, denn meine Mutter hatte sie zu ihm geschickt, damit sie ihre Unterrichtsausarbeitungen mit ihm bespreche. Es war stets die Hauptsorge meiner Tante, wenn sie bei uns wohnte, daß solch eine Ortsverpflanzung allzuleicht mit einer Unterbrechung der Arbeit verbunden sei, ein Preis, den meiner Tante zu entrichten schwergefallen wäre. Um »das Kind«, wie meine Mutter sich auch in diesem Fall ausgedrückt hatte, nach Frankfurt zu locken, denn sie fühlte die Pflicht, ihre jüngere Schwester gelegentlich aus der Sphäre des St.-Ursula-Gymnasiums herauszuholen, hatte sie ihr die Hilfe des Monsignore in Aussicht gestellt. Der hohe geistliche Titel Eichhorns, der freilich nur den Außenstehenden verbarg, daß ihn seine Oberen seit langem nicht mehr liebten, gab meiner Tante beinahe das Gefühl, eine Dienstreise nach Frankfurt anzutreten, und in einem der Reise vorausgehenden, mutig begonnenen kleinen Briefwechsel hatte sie ihn über ihre Arbeit unterrichtet und dabei beglückt vernommen, daß der Monsignore Homme de lettres mit eigener literarischer Produktion sei. Der Gedanke, ihre Auffassung des ›Kleinen Prinzen‹ mit einem Dichter zu besprechen, berauschte sie und gab ihr in den langen Wochen vor Ferienbeginn den Schwung, der aus der Erwartung kommt.
Die eigentlichen Besuche standen an diesem Sonntagvormittag noch bevor. Sie hatten verschoben werden müssen, weil meine Tante ihr Maschinenschriftexemplar nicht abschließen konnte, solange die Schreibmaschine noch in Bockenheim stand und gerichtet wurde. Aber meine Tante war dem Priester jedenfalls schon vorgestellt, und es kam mir vor, als ob er ihr sogar ein winziges einverständliches Kopfnicken zukommen ließ, als er die Kanzel bestieg, um seine Predigt zu halten. Gewiß war er erstaunt, als er sah, was sie tat, und vielleicht war diese Beobachtung auch der Grund dafür, daß er die Stimme hob und lauter sprach, als ob er sie auf diese Weise zur Ordnung rufen wolle, wie ihr Vater, wenn er am Familientisch einen Zank seiner Söhne bemerkte, eine verhohlene Balgerei, Tritte unter dem Schutz der |473| die nackten Knie bedeckenden Tischdecke oder Raubzüge gegen die Apfelsinen auf dem Teller des Nachbarn, die sich in seiner Gegenwart nicht zu wehren trauten, zunächst davon absah, den Vorfall »expressis verbis« zu »rügen«, wie er in seiner Mischung aus Humanisten- und Beamtensprache gesagt hätte, sondern nur einfach seinen Satz, so nichtig er gewesen sein mochte, in verdoppelter Lautstärke fortsetzte und damit schon den gewünschten Erfolg einer vorläufigen Einschüchterung erzielte.
Die väterliche Verfahrensweise im Munde des Monsignore erzielte jedoch bei meiner Tante die gegenteilige Wirkung. Sie beruhigte sich nicht nur nicht in ihrem nervösen Bestreben, unter ihren Bildchen Ordnung zu schaffen, sie wachte eigentlich erst recht auf und sah den laut sprechenden Prediger zornig an. Der Monsignore war unglücklicherweise an einer besonders heiklen, jedenfalls eigenwilligen Passage seiner Betrachtung
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