Das Bienenmaedchen
sich in diesen Räumen abgespielt hatten. An dieser Stelle, dachte sie, als sie in einem langen, schmalen Raum stand, war der Speisesaal gewesen, und hier der Flur, wo ihre Großmutter Rafe begegnet war. Den Salon mochte Lucy am liebsten. Sie ging noch einmal hinein und betrachtete wieder die verkohlten Überreste des hölzernen Kaminsimses mit seinen geschnitzten Früchten und Blumen. Der Abschnitt mit der Biene war verschwunden. Aber Lucy konnte sich vorstellen, wo sie gewesen war und wie die junge Beatrice sie gefunden hatte. Auch der lateinische Leitspruch war nicht mehr lesbar. Die Herrlichkeit der Familie Wincanton, so wie sie seit alters bestanden hatte, war vergangen.
Lucy schlenderte zurück zum Klippenrand und blieb einen Augenblick lang stehen, um über das Wasser hinauszuschauen und die Punkte zu beobachten – kleine Boote. War eins davon das von Anthony? Das bläulich schimmernde da vielleicht. Und wenn es es war – konnte er sie von dort aus sehen? Sie winkte, nur für den Fall, doch das Boot war zu weit entfernt. Sie konnte nicht erkennen, ob jemand zurückwinkte.
Sie wollte sich gerade auf den Rückweg nach Saint Florian und zum Hotel machen, als ihr etwas einfiel. Direkt unter ihr musste der kleine Strand liegen, der durch die Flut unzugänglich wurde. Vielleicht konnte sie die verborgene Treppe entdecken. Als sie weiter die Klippe entlangwanderte, sah sie eine Einbuchtung, die aussah wie der Anfang eines Pfades. Sie ging hinunter und entdeckte tatsächlich zwischen den Felsen einen Pfad, der sich nach unten außer Sichtweite schlängelte. Sie folgte ihm ein kurzes Stück und fühlte sich vollkommen sicher – bis sie zu einer scharfen Biegung kam und den Fehler beging, über den Rand zu schauen. Die Klippe fiel etwa zehn Meter bis zum Strand hinunter ab, und vor Angst drehte sich ihr der Magen um. Sie setzte sich mit dem Rücken zur Klippe ins Gras und starrte in den Himmel, um sich zu beruhigen. Aber die hingetupften Wolken zogen so rasch vorbei, dass ihr schwindelig wurde und sie die Augen schließen musste.
Es dauerte nur einen Moment, dann fühlte sie sich wieder stark genug, um zum Klippenrand hinaufzugehen und sich auf den Weg zurück nach Saint Florian zu machen.
»Ich habe keine Ahnung, wem Carlyon gehört«, sagte Beatrice, »oder warum da nie wieder jemand gebaut hat. Vielleicht weiß deine Tante Hetty mehr darüber.«
Es war ein kühler Abend. Beatrice und Lucy saßen vor dem Kamin, in der Hand ein Glas mit hellem Sherry.
»Ich hab sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen«, sagte Lucy. Ob es die Wirkung des Sherrys war oder die Atmosphäre im Raum – sie fühlte sich auf seltsame Weise von ihrem normalen Leben abgeschnitten. »Ich bin mir noch nicht mal sicher, wo sie wohnt.«
»Nicht besonders weit weg von hier. Ich habe dir ja schon erzählt, dass sie mir von Toms Tod geschrieben hat. Auf dem Briefumschlag stand als Adresse Saint Agnes. Das ist oben an der Nordküste.«
»Das wusste ich nicht«, sagte Lucy überrascht. »Wir haben Hetty nicht oft gesehen. Dad und sie standen sich nicht besonders nahe. Ich weiß eigentlich nicht viel über sie – sie hat nie geheiratet, oder?«
»Nein. Soweit ich weiß, war sie nie liiert. War vielleicht nicht ihre Sache. Sie hat viele Jahre als Korrektorin für einen Verlag gearbeitet. Darin war sie wohl ziemlich gut, wie ich gehört habe. Sie hat Cornwall immer geliebt. Bestimmt ist sie deshalb hierher zurückgekommen.«
»Wann hast du sie zuletzt gesehen?«
»Auf Angelinas Begräbnis … und davor? Ewig lange nicht. Ich kann mich nicht daran erinnern. Ich glaube, Hetty betrachtet mich als Feindin. Ich war überrascht, dass sie mir wegen Tom geschrieben hat. Ich frage mich …«, sagte sie wie zu sich selbst, »… ob sie mich damit verletzen wollte.«
»Wie meinst du das?«, fragte Lucy.
Beatrice war in Gedanken versunken und antwortete nicht. Mit ihrer beringten Hand klopfte sie leicht gegen ihr Glas. Für den Rest des Abends blieb sie in einer nachdenklichen Stimmung, und Lucy drang nicht weiter in sie. Gleichzeitig war Lucy gerührt, weil Beatrice es offenkundlich genoss, dass sie da war und ihre einfache Mahlzeit mit ihr geteilt hatte. Beatrice erkundigte sich nach ihrer Arbeit und nach ihrer Schulzeit.
»Ich habe deine Mutter nie kennengelernt«, sagte Beatrice. »Aber ich habe mal vor vielen Jahren in einer Galerie in Norfolk ein paar sehr ansprechende Meereslandschaften von ihr gesehen. Malt sie noch?«
Lucy erzählte ihr
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