Das Biest aus den Alpen
gekleideten Gestalt das Ziel. Mit einem schweren
Rucksack bepackt, trat sie in die Wirtsstube ein. Dort saß ein einzelner Gast
am Stammtisch, tief in eine Zeitung versunken. Der Leser blickte auf, schob
seine Nickelbrille auf der Nase zurecht und begrüßte den Ankömmling mit einem
Lachen: »Lässt einen den ganzen Nachmittag mutterseelenallein hier sitzen.
Möchte nur wissen, wo du wieder herumgestrolcht bist.«
»Aber Jan«, entgegnete
Professor Corvinus lächelnd — er war nämlich der Eintretende — , »heute habe
ich dich noch gar nicht erwartet.«
»Wie wär’s mit einem
Willkommenstrunk?« Der Brillenträger deutete auf die Flasche und die beiden
Gläser, die vor ihm auf dem Tisch standen. Die Männer ließen die Gläser
klingen.
»Entschuldige, dass ich deine
warmherzigen Gefühle mit einer nüchternen Frage erwidere: Was macht dein
geheimnisvoller Schatz, Professorchen?«
»Wie vermutet befindet sich
unter der Auerburg tatsächlich ein unterirdisches Gangsystem. Ich habe...«
In diesem Augenblick öffnete
sich die Tür zur Gaststube. »Guten Abend«, grüßte Karl, als er eintrat. Er war
sichtlich überrascht, als er Dr. Jan Forschmann, ihren Mitreisenden aus dem
Zug, neben Professor Corvinus sitzen sah. Sie tauschten einige höfliche Sätze
aus, dann überreichte Karl die zusammengefaltete Notiz des Kurators.
Anschließend verdrückte er sich unauffällig an einen Tisch in die Ecke und tat
so, als spiele er mit seinem Smartphone. Immer wieder sah er wie zufällig hoch
und beobachtete die beiden Männer bei ihrem Gespräch.
Professor Corvinus entfaltete
das Blatt, betrachtete es genau — und sprang überrascht auf. Dann reichte er
das Schreiben an seinen Freund weiter: »Nimm! Lies! Da mühe ich mich seit
Monaten mit den Inschriften auf den Kirchenfenstern ab und dieser Teufelskerl
löst sie im Handumdrehen.« Professor Corvinus war fast schon ärgerlich, dass
einem anderen die Lösung so schnell geglückt war. Erregt rief er: »Hast du das
gelesen? ›Wer sich nicht fürchtet, in die Höhle des Tatzelwurms zu greifen...‹«
»Hast du eine Ahnung, um
welchen Brunnen es sich hier handelt?«, fragte Forschmann.
»Aber ja! Die Burg ist uralt.
Die ältesten Teile wurden immer wieder erneuert. Tief in der Erde existiert
eine ganze Folge von Räumlichkeiten. Erst gestern habe ich herausgefunden, dass
sich unter einem großen Steinquader ein Raum von beträchtlicher Größe mit
besonders dickem Mauerwerk befindet. In der Mitte ist ein Brunnenschacht, der
allem Anschein nach ins Nichts führt. Ziemlich weit unten befindet sich eine
kunstvoll geschmiedete Eisenplatte, die von einem feuerspeienden Reptil
geschmückt wird.
Die Tür zu dem Raum war massiv
und mit einem riesigen Schloss gesichert. Mit der richtigen Ausrüstung kann
man, denke ich, an einem Seil oder mit einer Leiter in den Schacht einsteigen.«
»Du kennst mich. Das gehört zu
meinen leichtesten Übungen.« Der Kryptozoologe überlegte kurz.
Dann sagte er: »War irgendetwas
Merkwürdiges an dem Raum? Ein sonderbarer Geruch beispielsweise?«
»Geruch? Ja! Wie fauliges
Wasser. Ein ekelhafter Gestank! Ständig hatte ich das Gefühl, ich müsste mich
übergeben.«
»Ist der Brunnen leer?«
»Ich habe einen Stein
hineinfallen lassen. Nach etlichen Sekunden hörte ich ihn ins Wasser plumpsen.«
Karl hatte den größten Teil des
Gespräches auffangen können. Also doch zwei Gauner! Euch werden wir schön
heimleuchten!, dachte er bei sich.
Er würde die beiden keine
Sekunde mehr aus den Augen lassen.
»Wir können ganz nach Belieben
schalten und walten, Jan«, hörte Karl Professor Corvinus triumphieren. »Die
Behörde hat mir offiziell grünes Licht erteilt.«
Die beiden Männer stießen auf
gutes Gelingen an.
Dann sprach Corvinus weiter:
»Die Sache ist heikel. Wenn wir arbeiten, müssen wir auf alle Fälle vorsichtig
vorgehen.«
»Lass uns gleich morgen in
aller Frühe weitermachen.«
Nein, bloß nicht!, dachte Karl.
Wir brauchen nämlich auch noch Zeit...
Fritzi hatte sich noch nicht
ins Bett gelegt, sondern stand
nachdenklich am Fenster ihres Zimmers. Würde der Unbekannte, der ihre Eltern
bedroht hatte, ein zweites Mal auftauchen?
Es schlug elf Uhr. Die junge
Frau gähnte herzhaft, und es fiel ihr immer schwerer, die Augen offenzuhalten.
Immer häufiger klappten die Lider herunter. Müde wandte sie sich vom Fenster
ab, um sich hinzulegen. Da hörte sie eine Tür schlagen. War es die Haustür der
Pension gewesen? Sie
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