Das Biest aus den Alpen
Von einer Stehleiter aus wollte ich noch einige letzte Fotoaufnahmen von
den Fenstern machen. Ich balancierte dazu das Stativ der Kamera auf die
äußerste Kante der Leiter. Bei der Scharfeinstellung rutschte das Stativ ab —
und schon war das Unglück geschehen. Ein Bein des Stativs hatte das Glas
gestreift, und als ich genau hinsah, bemerkte ich einen Ritzer an einer sonst
schwarz gefärbten Stelle. Zunächst war der Schreck groß, ein solch wertvolles
Stück beschädigt zu haben. Bei näherer Untersuchung der Schadstelle fiel mir
aber auf, dass das Glas gar nicht angekratzt war. Die Farbe hatte sich
abgeschält. Stellen Sie sich meine Überraschung vor, als unter dem Schwarz
andersfarbiges Glas aufleuchtete! Ich half mit dem Fingernagel etwas nach und
entdeckte, dass die schwarze Farbe der Bordüre nicht eingebrannt, sondern nur
aufgetragen war.«
Alois Wildgruber beugte sich
erneut gespannt über die Bilder.
»Diese Einsäumung von Johannes’
Gewand war kunstgerecht mit schwarzer Farbe aufgemalt. Als ich sie vom Schwarz
befreit hatte, leuchteten die Bordüren smaragdfarben auf. Passend zur Farbe des
Umhangs. Darin, kaum sichtbar und nur mit dem stärksten Vergrößerungsglas
wahrzunehmen, konnte man einige Buchstaben erkennen. Bei oberflächlichem
Betrachten sahen sie wie eine goldene Stickerei aus.«
»Der Namensvetter Spagls —
Johannes — trug tatsächlich eine Inschrift an seinem Gewand, von der niemand
etwas ahnte?«
Corvinus nickte begeistert.
Gleichzeitig hoben er und sein Gastgeber die Gläser und ließen mit einem
einzigen Zug die erste Spannung verebben.
»Ich schrieb die Buchstaben
akribisch auf. Am Ziel meiner Arbeit sah ich mich noch längst nicht, wohl aber
am Ende meiner Weisheit. Was ich vorfand, war eine sinnlose Aneinanderreihung
von Buchstaben. Auch nach einer neuerlichen Prüfung blieb das Durcheinander
bestehen.« Damit schob Professor Corvinus dem Kurator ein Blatt zu, auf dem zu
lesen stand: KECNE WTES RR SEIVCZHT NAIH CC HSTNFEUN EI RECN HIT EE TT SIL
NEDHIM EE HDOR EE HTL NEU DN EE SNWN UU RR MBSMZIUS GSR EE II LFLEGNAEPRSW SIE
RNBN TASHIO CJHR DA AKSIG VOHLCDI.
»Was halten Sie davon?«, fragte
Corvinus.
»Das kann man ja noch nicht
einmal aussprechen! Lediglich die Wörter ›Ei‹, ›Hit‹, ›neu‹ und ›sie‹ ergeben
einen Sinn. Allerdings dürfte man das Wort ›Hit‹ damals kaum gekannt haben.«
»Ich saß tage- und nächtelang
über dem Text, doch er blieb für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Inzwischen
bin ich der festen Überzeugung: Wenn eine Lösung möglich ist, dann nur an Ort
und Stelle. Deshalb kam ich hierher. Mir geht es nicht um den Schatz, sondern
um das Aufdecken eines jahrhundertealten Geheimnisses.«
Der Kurator glaubte seinem Gast
aufs Wort.
»In Kürze erwarte ich einen
guten Freund, der mich bei meiner weiteren Suche unterstützen wird. Er befasst
sich allerdings nur aus Liebhaberei und nicht beruflich mit Altertümern.
Eigentlich ist er Zoologe.«
»Ich drücke Ihnen die Daumen«,
sagte der Kurator lächelnd. »Leider kann ich Ihnen keinen Tipp geben, wo und
wie Sie weitermachen sollen. Viele haben nach dem Schatz gesucht und viele sind
daran gescheitert. Es wurde an langen Winterabenden Brauch, den Kindern davon
zu erzählen. Die Sage vom verborgenen Schatz ist hier genauso bekannt wie die
Geschichten über den Tatzelwurm.« Leise fuhr er fort: »Von unserem Mesner
erzählt man sich übrigens, er sei ein heimlicher Schatzsucher. Er spricht nicht
viel darüber. Hat wohl mit einem unangenehmen Kapitel seiner Familienchronik zu
tun.« Für einen Moment ruhten die gütigen Augen des Kurators sinnend auf seinem
Gast. Dann fuhr er mit lebhafter Stimme fort: »Nach Ihren Darlegungen bin ich
nun gar nicht abgeneigt, an der Geschichte etwas Wahres zu finden. Auf alle
Fälle werde ich beim Bürgermeister eine Vollmacht für Sie erwirken und hoffe,
dass Sie Erfolg bei Ihren weiteren Grabungen haben.« Und mit einem Blick auf
das Buchstabenwirrwarr sagte er: »Und wenn Sie möchten, helfe ich Ihnen bei der
Entschlüsselung.«
Einige Stunden später, in der
Zeit, da die Nacht dem frischen
Morgen das Feld räumte, lag eine nahezu lautlose Stille über dem Land. Ein
wunderbarer Sommermorgen war angebrochen. Strahlend klar begann die Sonne ihren
Aufstieg zur langen Tageswanderung. Noch hielt sich der Lärm des Tages zurück.
Seit geraumer Zeit versuchte
Alois Wildgruber, der Kurator des Heimatmuseums, die Geheimschrift, die ihm
Professor
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