Das Bild
mindestens einssechsundachtzig groß, mit breiten Schultern und großen, stämmigen Beinen. Außerdem roch er nach Cop.
Über dem Spiegel hingen Fotografien von Michael Jordan,
Charles Barkley und Jalen Rose. Jordan trug ein Basebälltrikot der
Birmingham Barons. Über seinem Bild hing ein Zettel mit der Aufschrift DER EINSTIGE & KÜNFTIGE BULL. Norman deutete
darauf. »Mach mir so’n Schnitt«, sagte er.
Der schwarze Friseur sah Norman argwöhnisch an und vergewisserte sich zuerst, ob er nicht betrunken oder high war, dann versuchte er zu ergründen, ob das ein Witz sein sollte. Letzteres war
wahrscheinlich schwieriger als ersteres. »Was sagense da, Bruder?
Soll das heißn, Sie wollne Glatze?«
»Genau das soll es heißen.« Norman strich mit einer Hand durch
sein Haar, das dicht und schwarz war und gerade erste Spuren von
grau an den Schläfen erkennen ließ. Es war weder außergewöhnlich
kurz, noch außergewöhnlich lang. Er trug es seit fast zwanzig Jahren in dieser Länge. Er sah in den Spiegel und versuchte sich vorzustellen, wie er aussehen würde, so kahl wie Michael Jordan, nur
weiß. Es gelang ihm nicht. Mit etwas Glück würden Rose und ihre
neuen Freundinnen es auch nicht können.
»Sicher?«
Plötzlich wurde Norman fast übel vor Verlangen, diesen Mann
niederzuschlagen und ihm die Knie auf die Brust zu drücken und
sich über ihn zu beugen und ihm die gesamte Oberlippe, mitsamt
seinem coolen Schnurrbart, einfach aus dem Gesicht zu beißen.
Und er vermutete, daß er den Grund dafür kannte. Er sah dem
denkwürdigen kleinen Schwanzlutscher Ramon Sanchez ähnlich.
Der versucht hatte, Geld mit der Kreditkarte abzuheben, die Normans verlogenes Miststück von einer Frau ihm gestohlen hatte.
O Friseur, dachte Norman, O Friseur, du bist nahe dran, daß
ich dir dein Licht auspuste. Noch eine Frage, noch ein
falsches Wort, und ich werde dir dein Licht auspusten. Und
ich kann nichts zu dir sagen. Ich könnte dich nicht mal warnen, wenn ich es wollte, denn im Augenblick würde meine
Stimme schon ausreichen, das Faß zum Überlaufen zu bringen. So sieht’s aus, und so läuft’s.
Der Friseur warf ihm noch einen langen, vorsichtigen Blick zu.
Norman blieb stehen und ließ ihn sich sattsehen. Nun fühlte er sich
gelassen. Was geschehen sollte, würde geschehen. Es lag alles in
den Händen dieses Niggers.
»Na gut, scheint Ihr Ernst zu sein«, sagte der Friseur schließlich. Seine Stimme klang sanft und entwaffnend. Norman entspannte die rechte Hand, mit der er tief in der Hosentasche den
Schocker umklammert hatte. Der Friseur legte seine Zeitschrift auf
den Tresen zu den Flaschen mit Aftershave und Kölnischwasser
(auf einem kleinen Messingschild dort stand SAMUEL LOWE),
dann stand er auf und schüttelte eine Plastikschürze aus. »Wenn
Sie wie Mike aussehen wollen, dann los.«
Zwanzig Minuten später betrachtete sich Norman nachdenklich
im Spiegel. Samuel Lowe stand neben seinem Stuhl und beobachtete ihn. Lowe schien nervös zu sein, aber auch interessiert. Er hatte
den Blick eines Mannes, der etwas Bekanntes aus einer völlig
neuen Perspektive sieht. Zwei neue Kunden waren hereingekommen. Auch sie beobachteten Norman, der sich selbst betrachtete,
und stellten identische, bewundernde Mienen zur Schau.
»Der Mann sieht gut aus«, sagte einer der Neuankömmlinge. Er
sagte es in einem leicht überraschten Tonfall, und hauptsächlich zu
sich selbst.
Norman bekam nicht völlig auf die Reihe, daß er der Mann im
Spiegel war. Er blinzelte, und der Mann im Spiegel blinzelte auch;
er lächelte, und der Mann im Spiegel lächelte, aber das half nichts.
Vorher hatte er die Stirn eines Cops gehabt; jetzt hatte er die Stirn
eines Mathematikprofessors, eine Stirn, die bis in die Stratosphäre
reichte. Er kam nicht über die glatten, irgendwie sinnlichen Konturen seines kahlen Schädels hinweg. Und darüber, wie weiß er war.
Norman war nicht der Meinung, daß er auch nur ein bißchen sonnengebräunt war, aber verglichen mit seinem blassen Schädel
wirkte der Rest seines Körpers so braun wie der eines Bademeisters.
Sein Kopf sah seltsam zerbrechlich und zu perfekt aus, um zu
jemandem wie ihm zu gehören. Um überhaupt zu einem menschlichen Wesen zu gehören, besonders einem Mann. Sein Kopf sah aus,
als sei er aus Delfter Porzellan gemacht.
»Sie ham echt kein schlechten Kopf, Mann«, sagte Lowe. Er
sagte es zögernd, aber Norman hatte nicht den Eindruck, als wollte
er ihm schmeicheln, und das war gut, weil Norman nicht in
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