Das Bildnis der Novizin
angehaltenem Atem verharrte Fra Piero neben dem Türspalt. Er sah, wie sich die dunkle Kutte bewegte, vor und zurück, vor und zurück.
»Du bist ein Engel, Marco«, hörte er die helle Stimme von Propst Inghirami keuchen.
Fra Piero drückte sich an die Wand neben der Tür, wo er nicht gesehen werden konnte, und spähte um die Ecke. Er sah, wie der Propst seinen Gürtel öffnete und abnahm. Der Schlüssel, der daran hing, klirrte. Mit langen, gespenstisch weißen Fingern hob er die Kutte des gebückt vor ihm stehenden Marco und entblößte dessen milchweißes Hinterteil. Mit einer fahrigen Bewegung griff er hinter sich und hängte seinen Gürtel an einen Wandhaken. Dann lüftete er seine Kutte.
Fra Piero war wie hypnotisiert, konnte den Blick nicht abwenden. Die langen Finger des Propstes umkrallten die Hüfte des Jungen, dann ein heftiger Stoß. Der Junge keuchte auf, der Propst stöhnte und murmelte Liebesbeteuerungen.
Fra Piero, der mehr gesehen hatte, als er wollte, wandte sich still ab und ging auf Zehenspitzen zur Hauptkapelle zurück. Er nahm das Altarbild und verließ die Kathedrale auf demselben Weg, auf dem er hereingekommen war.
26. Kapitel
Am Samstag der zwölf ten Woche nach Pfingsten, im Jahre des Herrn 1457
B itte, Lucrezia, nur ein bisschen.« Dies waren die ersten
Worte, die Spinetta nach vielen Monaten des Schweigens sprach. »Iss ein bisschen, bitte, mir zuliebe.«
Spinetta saß auf einem Hocker am Bett ihrer Schwester und strich ihr das Haar aus der Stirn. In der Hand hatte sie eine Handvoll Rosinen und ein paar Brocken Rebhuhnfleisch, die die Küchenschwester von der Suppe abgezweigt hatte. Lucrezia war bleich, ihre Augen blickten stumpf. Sie trug ein schlichtes weißes Unterkleid. Ihre Hände lagen leblos neben ihrem Körper.
»Mein Kind«, flüsterte sie mit heiserer Stimme. Sie schüttelte den Kopf. Ihre vollen Milchbrüste zeichneten sich unter dem Kleid ab und auch die sanfte Wölbung ihres Bauchs.
»Liebes, du musst etwas essen und trinken.« Spinetta hob die Hand ihrer Schwester an die Lippen und küsste sie unter Tränen. »Du musst wieder zu Kräften kommen.«
Zwei Tage waren seit der Geburt vergangen, und Lucrezia schien schwächer, statt stärker zu werden. Spinetta sah, wie die Lider ihrer Schwester flatterten und sich dann in tiefster Verzweiflung schlossen. Sie musste daran denken, wie stark ihre Schwester an jenem Tag in der Hütte des Malers gewesen war, nachdem ihr der Generalabt Gewalt angetan hatte. Sie hatte ihrer Schwester versprochen, niemandem zu verraten, was geschehen war. Sie hatte monatelang geschwiegen, um diese Wahrheit in ihrem Innern zu verschließen. Aber so viel war inzwischen geschehen, und nun schien es, als stünde gar Lucrezias Leben auf dem Spiel.
Schwester Pureza zeigte sich mitleidlos, und das machte Spinetta wütend. Gerade jene, die sie hätten beschützen sollen, ließen Lucrezia nun in jeder Hinsicht im Stich, ja, verletzten sie noch mehr.
Die junge Novizin gab sich einen Ruck. So konnte das nicht weitergehen. Sie legte ihre Handvoll Rosinen auf Lucrezias Bettdecke und ging energisch in den Garten hinaus. Wie nicht anders zu erwarten war, fand sie Schwester Pureza dort. Sie war gerade dabei, die weißen Rosensträucher, die den Garten säumten, zu beschneiden. Die alte Frau schaute auf, als Spinetta sich ihr näherte, verlangsamte ihren Arbeitsrhythmus jedoch keineswegs. Sie nickte kaum merklich in Spinettas Richtung und warf dann einen Blick zu Rosina, die am anderen Ende des Gartens bei den Schattenpflanzen kniete und zwischen den moosigen Steinen nach Morcheln grub.
»Meine Schwester weigert sich zu essen oder zu trinken«, sagte Spinetta, ohne sich mit Nettigkeiten aufzuhalten. »Ich habe sie noch nie in einem solchen Zustand erlebt.«
Die Nonne blickte mit zusammengekniffenen Augen zu ihr auf. »Lucrezia wird schon wieder zu essen anfangen und gesund werden. Sie ist jung und stark.« Die Alte knipste eine herrliche weiße Rose ab und ließ sie in ihren Korb fallen.
»Wie kannst du so gefühllos sein, wo du doch die Schuld an ihrem Kummer trägst, Schwester Pureza?«
Die Alte zuckte zusammen, ließ sich aber ansonsten nicht erschüttern.
»Nein, Schwester Spinetta«, antwortete sie kühl, »deine Schwester hat ihre Wahl selbst getroffen. Sie hat willig gesündigt, hat ihre Keuschheit aus freien Stücken aufgegeben, hat ihre Gelübde sehenden Auges gebrochen.«
»Nein!« Spinetta zitterte vor Wut. »Ihre Unschuld wurde geraubt,
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