Das Bildnis der Novizin
Der Knabe war ihr in jener Nacht gebracht worden und ja, er hatte ein kreuzförmiges Muttermal auf dem Po gehabt. Er war gesund gewesen und hatte einen kräftigen Appetit gehabt. Aber am nächsten Morgen war ein Bote mit einem versiegelten Schreiben vom Stefansdom und einem anderen Säugling aufgetaucht. Die Amme selbst konnte nicht lesen, aber der Bote hatte ihr das Siegel des Propsts gezeigt. Da hatte sie ihm den Knaben ausgehändigt und dafür das Geld und das andere Kind genommen.
»Und wo hat man das erste Kind hingebracht?«, fragte Schwester Pureza.
»Weiß ich doch nicht! Ist mir auch egal. Ein Kind ist so gut wie’s andere.« Die Amme schlug nach einem kleinen Mädchen, das sich an ihren Rockschößen festhalten wollte. »Sind alles nur hungrige Mäuler.«
Schwester Pureza wandte sich wie betäubt ab und wankte durch die Straßen. Sie kam an Frauen vorbei, die müde an Hüttenwänden lehnten, oder anderen, die vor dem Haus saßen und die Köpfe ihrer Kinder nach Läusen absuchten. Ein paar baten sie, für sie zu beten, und sie nickte automatisch. Als sie am Rathaus vorbeikam, brach sie weinend zusammen.
Mein Gott, lass nicht zu, dass der Generalabt mir das antut, hatte das Mädchen gefleht, das Gesicht von den langen Anstrengungen der Geburt gezeichnet. Du weißt, dass er mir wehgetan hat, Schwester Pureza, du weißt, dass mir der Generalabt wehgetan hat.
Schwester Pureza vergoss bittere Tränen. Sie weinte um die Novizin und weil sie selbst dabei geholfen hatte, ihr das Kind wegzunehmen. Sie weinte um sich selbst und darüber, was vor so langer Zeit geschehen war. Die Wunden fühlten sich frisch an, sie glaubte fast das Blut riechen zu können, das sie selbst bei der Geburt ihrer Tochter verloren hatte. Sie sah das Gesicht Marias vor sich, das voller Kummer zu ihrem Sohn aufblickte, der am Kreuz nach seinem Vater rief.
Lucrezia fühlte den feuchten Lappen zwischen ihren Beinen, die kratzige Decke an ihrem Hals. Fra Piero war da und auch Spinetta, die an ihrem Bett saß, den Rosenkranz betete und sie vergebens zu überreden versuchte, ein paar Bissen zu essen. Lucrezia wurde von Tag zu Tag schwächer, besaß nicht einmal mehr die Kraft, die Arme zu heben. Aber ohne ihr Kind war ihr alles egal.
»Wenn er nun Hunger hat?«, flüsterte sie, das Gesicht zur Wand gekehrt.
Fra Piero sah, dass sich ihre Lippen bewegten, und beugte sich über sie. »Was ist, meine Liebe?«
»Wenn er nun friert?«, flüsterte sie. »Wenn er krank ist?«
Ihre Brüste taten weh. Schwester Pureza hatte ihr einen engen Verband um den Brustkorb gelegt, um den Milchfluss zum Stillstand zu bringen, und manchmal hätte sie schwören können, die Bewegungen des Babys in ihrem Bauch zu spüren, als wäre es noch nicht geboren.
»Bitte, Lucrezia, du musst etwas essen«, bettelte Spinetta und bot ihr eine Handvoll Rosinen, reife Feigen oder eine Schale mit dünner Fleischbrühe an.
Spinetta fragte sich voller Bitterkeit, wo Schwester Pureza sich wohl versteckt hielt. Es war Stunden her, seit sie ihr im Garten die Wahrheit gesagt hatte, und Spinetta konnte sich nicht vorstellen, was die alte Frau wohl machte.
»Nur ein bisschen Brühe, bitte«, murmelte sie, aber Lucrezias Lippen waren fest geschlossen.
Als Fra Piero sich zum Gehen wandte, beugte er sich noch einmal über die reglose Gestalt im Bett und flüsterte ihr zu: »Filippo lässt dich grüßen. Er bittet dich, bei Kräften zu bleiben.«
»Wozu?«, klagte Lucrezia. »Hat er seine Freunde benachrichtigt? Hat er mein Kind gefunden? Oder glaubt er, ich warte noch immer auf Nachricht aus Rom?«
Der Prokurator wandte sich schweigend zum Gehen. Lucrezia fühlte Spinettas kleine Hand an ihrer Hüfte, aber sie drehte sich nicht um.
Sie sagte nichts, auch nicht, als sich Rosina am späten Abend in ihre Kammer schlich und ihr ein kleines gekochtes Ei hinhielt.
»Nein«, flüsterte sie, ohne das Mädchen anzusehen. »Nein.«
Als sich die Abendstille über Santa Margherita senkte, musste Lucrezia daran denken, wie sie zum ersten Mal in der Kapelle vor Fra Filippos Bild gekniet hatte. Sie dachte daran, wie er ihre Schönheit gepriesen – und wie sie sich darüber gefreut hatte. Auf einmal wurde ihr alles klar. Schwester Pureza hatte recht: Sie hatte gesündigt, schwer gesündigt. Sie war stolz und eitel gewesen. Man hatte in ihr die Heilige Jungfrau gesehen, hatte sie gar selbst dafür gehalten, und davon hatte sie sich blenden lassen. In ihrer Eitelkeit hatte sie die Muttergottes
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