Das Bildnis der Novizin
schaute sich um. Als er die weiße Kutte des Malers nirgends entdeckte, nickte er.
Fra Diamante und Tomaso machten den beiden beim Betreten der Kapelle respektvoll Platz.
»Die Bankettszene ist nicht schlecht«, musste Saviano widerwillig zugeben. »Findet Ihr nicht?«
»Ja, ja«, antwortete der Propst zerstreut. Er spähte ins Halbdunkel unter den Gerüsten. Er suchte nach dem jungen Marco, weil er ihm signalisieren wollte, sich später mit ihm im Treppenhaus des Glockenturms zu treffen. Wenn er ihn jetzt nicht erwischte, würde er seinen Gürtel an die Turmtür hängen müssen, zum Zeichen für den Jüngling, dass er drinnen auf ihn wartete.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Saviano mit einem Mal barsch.
Propst Inghirami sah den Generalabt an, dessen Gesicht zornesrot geworden war. Er wies auf die Nordwand, unter der Lünette.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Inghirami.
»Macht doch die Augen auf!«, fauchte Saviano und wies barsch auf die Freskenszene.
Inghirami brauchte ein paar Sekunden, bis er den grünen Dämon entdeckt und Fra Filippos Botschaft entschlüsselt hatte. Seine Augen huschten von dem grünen Dämon zu dem grün gekleideten Priester und blieben schließlich am grünen Saum von Savianos kostbarer Robe hängen. Der Legende zufolge wurde der heilige Stephanus zwar von einem Reh gesäugt und später aus der Wildnis zurückgebracht und der Obhut eines gütigen Bischofs übergeben, doch war offensichtlich, dass Fra Filippo, indem er dem Geistlichen und dem Dämon dieselbe Farbe gab, eine böse, unheilige Verbindung zwischen beiden andeuten wollte.
»Das hat nichts zu bedeuten, Monsignore«, flüsterte der Propst. Er warf einen bezeichnenden Blick auf Fra Diamante und Tomaso, die in ihrer Arbeit innegehalten hatten und nun herüberstarrten. »Das sind doch nur die Wahnvorstellungen eines geisteskranken Künstlers.«
Inghirami scheute davor zurück, den Generalabt am Arm zu nehmen und wegzuführen. Zu seiner großen Erleichterung hatte Saviano auch so verstanden, wandte sich ab und rauschte mit empört flatternder Robe davon.
»Für wen hält der sich eigentlich?«, flüsterte er dem Propst wütend zu, kaum dass sie den Kapellenraum verlassen hatten.
»Er ist vom Teufel besessen«, flüsterte Inghirami zurück. »Das wird ihm noch leidtun.«
Die beiden schritten nun zur Kapelle, in der der Heilige Gürtel aufbewahrt wurde. Inghirami nestelte an seinem Gürtel und suchte den Schlüssel heraus, mit dem sich das Bronzegitter aufschließen ließ. Die beiden Männer verharrten schweigend, als sich das Gatter mit einem langgezogenen Quietschen öffnete.
Ein Sonnenstrahl fiel durch das runde Fenster in der Rückwand. Die durch das Öffnen des Gitters aufgewirbelten Staubflocken tanzten und funkelten im Licht. In der Nähe brannte Weihrauch, und Myrrheduft lag in der Luft. Sie näherten sich der juwelenfunkelnden Truhe mit der Reliquie.
Wie immer verbeugte sich Inghirami zuerst ehrfürchtig und machte ein Kreuzzeichen.
»Heilige Maria, Muttergottes, bete für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes.«
»Amen«, schallte die Stimme des Generalabts durch die meditative Stille. Er machte schon Anstalten, ungeduldig nach der Truhe zu greifen, doch Inghirami kam ihm zuvor. Ehrfürchtig legte der Propst seine Hände auf den Deckel und öffnete mit seinen Daumen die Silberspangen der Verschlüsse. Er holte tief Luft und klappte den Deckel auf.
Die Truhe war leer.
Der Propst schnappte nach Luft und zuckte entsetzt zurück.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte der Generalabt zum zweiten Mal in dieser Stunde.
»Großer Gott, ich habe keine Ahnung«, stammelte Inghirami. Er starrte ein paar Sekunden lang in die leere Truhe, dann klappte er den Deckel zu.
»Muss ich Euch daran erinnern, dass es Eure oberste Pflicht ist, die Sicherheit der Reliquie zu gewährleisten? Wenn der Heilige Gürtel nicht hier ist, wo ist er dann?«
»Ich weiß es nicht!« Der Propst schob einen dürren Finger in den eng anliegenden Kragen seiner Robe.
»Ihr habt den einzigen Schlüssel und es liegt an Euch zu erklären, was zum Teufel hier vorgeht«, fauchte Saviano.
»Ich habe den Gürtel nicht, ich schwöre es Euch.« Inghirami fiel auf die Knie und hob flehend die Hände. »Heilige Maria, Muttergottes«, stammelte er. »Bitte teile mir mit, was hier vorgeht.«
Der Generalabt schaute grimmig auf den Propst hinab. »Jetzt steht schon auf«, zischte er. »Dies ist nicht die Zeit zum Beten. Wir müssen handeln.
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