Das Bildnis der Novizin
Auf den Diebstahl des Gürtels steht die Todesstrafe. Wenn sich kein anderer Schuldiger findet, fällt der Verdacht auf Euch.«
Der Propst schloss die Augen und holte tief Luft. Er hatte nie vorgehabt, auch nur einer Menschenseele zu erzählen, dass er den Heiligen Gürtel im vergangenen Jahr eine Zeitlang aus der Hand gegeben hatte. Aber die Äbtissin würde es sicher zugeben, wenn man sie unter Druck setzte. Und sie würde ihn für das Verschwinden des Gürtels verantwortlich machen. Besser, wenn er jetzt gleich alles gestand, solange der Generalabt ihm noch halbwegs geneigt war. Außerdem war es ja möglich, überlegte er, es war immerhin möglich, dass die Äbtissin und die Medici ein zweites Mal die Finger im Spiel hatten.
Inghirami wappnete sich vor Savianos Zorn und erzählte rasch, wie Cantansanti vor einem Jahr im Dom aufgetaucht war und die vorübergehende Herausgabe des Gürtels verlangt, nein, befohlen hatte.
»Cantansanti konnte eine versiegelte Direktive aus Rom vorweisen, in der ich angewiesen wurde, den Gürtel vorübergehend auszuhändigen«, stammelte er. »Ich habe guten Grund anzunehmen, dass die Medici den Gürtel nach Santa Margherita brachten und ihn der Obhut der Äbtissin übergaben.«
»Was?«, stieß Saviano hervor. »Wie konnte so etwas ohne mein Wissen geschehen?«
»Es war für den Maler, da bin ich mir sicher«, gestand der Propst leise. »Denn an dem Tag, da der Gürtel den Dom verließ, hat Schwester Lucrezia das Kloster verlassen. Und einen Monat später erhielt Valenti das Gemälde, das sie Wunderreiche Madonna nennen.«
Ein lautes Bimmeln der Glocke am Klostertor ließ Äbtissin Bartolommea aufschrecken. Sie warf Schwester Camilla einen besorgten Blick zu. Man hörte das Stampfen und Schnauben von Pferden. »Wer mag das sein?«
Schwester Camilla rannte zum Fenster. »Es ist der Generalabt!«
Die Äbtissin nahm rasch ihre Brille ab und versteckte sie in der Tasche ihres Habits.
»Generalabt Saviano? Hat er sich denn angemeldet?«
»Ob angemeldet oder nicht, spielt keine Rolle«, sagte der Generalabt hochmütig. »Ich bin hier.« Mit dem Propst im Schlepptau betrat er das Büro der Äbtissin.
Die Mutter Oberin stand auf und trat hinter ihrem Schreibtisch hervor.
»Lass uns allein, Schwester«, befahl Saviano Schwester Camilla. Mit heftig pochenden Schläfen wartete er, bis sich die erschrockene Nonne an ihm und dem Propst vorbeigedrückt hatte. Er gab Inghirami einen Wink, ebenfalls das Büro zu verlassen. Dann waren er und die Äbtissin allein.
»Wie könnt Ihr es wagen, den Heiligen Gürtel zu stehlen?«, fragte er bedrohlich langsam.
Die Äbtissin zwang sich, ihm in die Augen zu schauen. »Ich versichere Euch, Monsignore, ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht.«
»Lügt mich nicht an!« Saviano richtete sich zu seiner vollen, beeindruckenden Größe auf. »Der Gürtel war schon einmal hier im Kloster. Und jetzt wird er abermals vermisst. Ihr werdet ihn sofort herausgeben!«
Der Äbtissin war fürchterlich heiß geworden. Der Generalabt schien alles Licht und alle Luft in dem kleinen, stickigen Raum zu schlucken. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass sie den heiligen Gürtel der Jungfrau nicht in ihrem Besitz hatte. Sie hatte ihn seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen. Dies erklärte sie Saviano.
»Nur der Emissär der Medici konnte einen solchen Transfer in die Wege leiten«, betonte sie. »Und Ser Cantansanti war schon seit einem Monat nicht mehr in Prato.« Ihre Gedanken überschlugen sich; sie gab sich alle Mühe, dem Generalabt klarzumachen, wie unsinnig seine Unterstellung war. »Wenn die Reliquie nicht in ihrer Truhe ruht, dann kann nur der Propst wissen, wo sie ist.«
»Ist das Euer letztes Wort, Mutter Oberin?«
»Ich kann nichts sagen, was ich nicht weiß«, beharrte sie mit zitterndem Kinn.
»Nun gut.« Der Generalabt stieß die Tür auf und hätte beinahe den Propst umgestoßen.
»Um Euretwillen, Gemignano«, fauchte er in das bleiche Gesicht Inghiramis, »sagt es mir gleich, wenn Ihr wisst, wo der Gürtel ist!«
»Bei meiner Seele, ich schwöre, dass ich es nicht weiß«, stammelte der Propst zurückweichend. »Ich selbst habe ihn vor nun fast einem Jahr entgegengenommen und wieder sicher in der Truhe verwahrt. Seitdem habe ich das Gitter nicht mehr geöffnet.« Inghirami musste an jene beiden Schurken denken, die man im vergangenen Jahrhundert auf der Piazza gehängt hatte, weil sie versucht hatten, den Heiligen Gürtel zu stehlen. Er
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