Das Bildnis der Novizin
ist noch nicht bereit, mit der Arbeit aufzuhören. Seit er die verantwortungsvolle Aufgabe übernommen hat, den Fresken ihren ursprünglichen Glanz zurückzugeben, ist er jeden Tag hergekommen, um die zerkratzten Gesichter der Männer zu studieren, die ausgeklügelte Anordnung der Figuren, ihre ausdrucksvollen Mienen, auf denen sich Misstrauen, Ehrfurcht, Zorn und Hoffnung abzeichnen.
Dies sind keine anonymen Gesichter, es sind die Gesichter von verdienten Brüdern aus dem Karmeliterkloster, da ist ein Selbstporträt von Masaccio, und eine der Figuren stellt gar den großen Leon Battista Alberti dar.
Der Künstler beugt sich vor und kratzt etwas abgeblätterte Farbe vom Kinn eines Adligen. Der angerichtete Schaden unterstreicht nur die Macht jener Hand, die diese Bilder schuf, den herrlichen Faltenwurf der Gewänder, die solide Architektur des Gebäudes in Antiochia, wo das Wunder stattfand.
Der Künstler schließt einen Moment lang die Augen und erinnert sich an das erste Mal, als er, klein und unsicher, neben seinem großen Vater stand, auf einem ganz ähnlichen Gerüst, in Spoleto. Er erinnert sich an den sicheren, selbstbewussten Strich seines Vaters, an seine riesigen, farbbespritzten Hände, daneben seine, Filippinos, junge, ungeschickte Knabenhände.
»Wenn du unsicher bist, warte. Die Inspiration kommt, wenn du bereit bist.«
Sein Vater ist seit zwölf Jahren tot, aber der junge Mann erinnert sich genau an seine Worte. Jeden Morgen, bevor er sich an die Arbeit macht, denkt er daran.
»Malen ist beten. Beten ist malen. Wenn du das nicht vergisst, wird Gott bei dir sein, wann immer du zum Pinsel greifst.«
Unvergesslich sind diese Worte seines Vaters. Er sieht ihn vor sich, wie er seine schwere Hand auf seine schmale Knabenschulter legt, wie er ihm die Perspektivlinie zeigt, sein Gesicht zum Licht dreht, ihm vorführt, wie man den zarten Schwung einer Frauenschulter malt, wie man einen Ausdruck des Zorns im Gesicht eines Mannes wiedergibt, alles mit wenigen, sicheren Strichen.
»Warte, bis du dir sicher bist. Aber dann sei kühn.«
Filippino Lippi schlägt die Augen auf. Er mustert das Fresko. Die Figuren, die um das Grab des jungen Theophilus herumstehen, sind ausnahmslos Männer. Keine Madonna. Diesmal.
Sein ganzes Leben lang hat Filippino, wie es scheint, Madonnen gesehen: blonde, zarte, blauäugige Madonnen, alle mit dem Gesicht seiner Mutter, ihrer hellen Haut, ihren warmen blauen Augen, den vollen Lippen. Er hat zwar den größten Teil seines Lebens fern von ihr verbracht, aber ihr Gesicht ist unauslöschlich in sein Gedächtnis eingegraben. Die Bilder, die sein Vater und dessen Schüler und Nachfolger von ihr schufen, hängen überall, wachen über ihn, erwarten ihn.
»Das Ebenbild des Himmels auf Erden«, hat sein Vater immer gesagt und auf seine Madonna gezeigt.
Obwohl seine Eltern während der letzten Lebensjahre seines Vaters in unterschiedlichen Städten lebten und Fra Lippi nie seine Anziehungskraft auf Frauen einbüßte, ist sich Filippino sicher, dass er seine Mutter bis ans Ende seiner Tage liebte, mehr als alle anderen Frauen, auf seine eigene, besondere Weise.
Filippino denkt an seine Mutter, die jetzt in der Nähe seiner Schwester Alessandra und deren Familie in Florenz lebt. Lucrezias Leben war nie leicht, aber sie hat sich nie beklagt.
»Es geht nie ohne Blut und Kampf ab«, sagt sie immer, wenn es Schwierigkeiten gibt. »Aber aus Blut ersteht Stärke und Schönheit.«
Das erste Mal, als sie dies zu ihm sagte, war er noch ein Kind. Er war von einem Baum gefallen, hatte sich die Schulter geprellt und das Knie aufgeschlagen. Sie hatte ihm aufgeholfen, ihn in die Werkstatt geführt, seine Wange gestreichelt und seine Wunden mit einem kühlen Lappen gesäubert. Aufrecht und liebevoll, mit einem weisen, traurigen kleinen Lächeln und ausdrucksvollen blauen Augen.
»Aus Blut ersteht Stärke und Schönheit, vergiss das nie, mein Filippino.«
Später, am selben Tag, hatte sie ihm ein kleines silbernes Medaillon von Johannes dem Täufer geschenkt. »Ein Geschenk von meiner eigenen Mutter. Und jetzt bekommst du es«, hatte sie gesagt, ihr warmer Atem auf seiner Wange.
Filippino Lippi, ein Mann, so groß und stark wie sein Vater und so schön wie seine Mutter, tastet nach dem Medaillon, das er in den Saum seiner Tunika eingenäht hat. Dann tritt er zurück, greift nach einem Pinsel, taucht ihn in Terra verde und nähert sich dem Fresko. Er kneift die Augen zusammen, schürzt die
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