Das bin doch ich
gewandete Frau auf einem Podest aus Bierkisten und deklamiert ein Gedicht. LISAS SCHATTEN ! ruft sie theatralisch, LISAS ARME , und den Rest höre ich nicht, weil ich eingeschüchtert bin und froh, daß mein Handy läutet und ich nach draußen gehen kann, um zu telefonieren.
Es ist Thomas Maurer. Wir reden über die bevorstehende Premiere seines neuen Programms. Er schweigt sich darüber aus, aber ich merke, ganz im reinen ist er nicht damit. Ich entschuldige mich, ich müsse das Gespräch beenden, um ins Theater zu gehen.
»Theater? Was gibt man?«
Ich lese vom Zettel: »Lisas Schatten. Eine Inszenesetzung einiger Gedichte Elfriede Jelineks, gemeinsam erarbeitet von Elke Krystufek und der Schauspielgru…«
»Sehr gut«, unterbricht mich Maurer, »da siehst du wenigstens eine nackte Scheide.«
In Wahrheit sagt er nicht Scheide, er drückt sich volksnäher aus.
»Meinst du?«
»Natürlich, das ist bei Krystufek-Abenden immer so.«
Die Clownsfrau steht noch immer da. LISAS SCHATTEN usw., und ihr Ton ist so albern, so aufgesetzt und bemüht künstlerisch, daß ich gern schon unten wäre an der Kasse. Aber vor mir eine Menschenschlange. Ich stelle mich an. Nichts tut sich. Ich kann die Kasse sehen. Da sitzt ein bärtiger junger Kerl, der aussieht, als würde er gewöhnlich beim Kommunistenfest Rum ausschenken, und blättert in Listen.
Die Abfertigung der Interessenten dauert rätselhaft lange. Was, frage ich mich, kann so schwierig sein, hier Karte, da Geld, und der Nächste bitte. Aber es dauert. Nur alle paar Minuten kann ich eine Treppenstufe tiefer steigen. Um acht soll die Vorstellung beginnen.
Ich betrachte die Leute vor mir. Hauptsächlich junge Menschen, jedenfalls unter Vierzig. Kunstinteressiertes Publikum, schwarze Kleidung, einige Parkas, viel fettiges Haar. Von hinten schallt LISAS SCHATTEN , gefolgt von weniger verständlichem Geheul. Mir wird allmählich heiß in der Menge.
Als ich noch sieben oder acht Stufen vom Bärtigen entfernt bin, tritt aus einer Seitentür eine Frau heraus. Sie ist auf jene Art geschminkt, die dem routinierten Besucher dramatischer Veranstaltungen anzeigt, daß diese Person etwas zu erzählen hat, daß sie die Trennlinie zwischen Schauspieler und Besucher nicht respektieren wird. Gut, ich gebe zu, ich übertreibe, so etwas sieht man niemandem an. Aber ich rieche so etwas. Und weiß schon, was jetzt kommt.
Die Frau rudert entrückt mit den Armen wie eine Betrunkene beim Tanzen, sie schneidet Grimassen, dann blickt sie die in der Schlange Wartenden herausfordernd an. Ich starre auf einen imaginären Punkt über dem Kassenhäuschen. Nicht mich, denke ich, nicht mich, nichtmichnichtmichnichtmich. Und höre von hinten: LISAS SCHATTEN ! LISAS …
Die Frau steigt die Treppe hoch. Jedem blickt sie ins Gesicht. Sie bleibt stehen. Neben mir. Beugt sich zu mir. Und während ich noch denke: Wieso nicht der Kerl zwei Reihen weiter, wieso nicht die beiden Frauen vor mir, wieso nicht die beiden Frauen hinter mir, und während ich genau in diesem Moment feststelle, um wie viel mehr Frauen als Männer hier versammelt sind, raunt mir die Frau laut zu – ein theatralisches Paradoxon, am Theater wird laut geraunt und laut geflüstert und leise geschrien – raunt sie mir zu:
»Hast du…« wisper, wisper… » HAST DU bschbschschschhhhhh? CHAST DU ÖS bschschhhhhsch? ODERR CHASCHT DU NÄCHT bschschschsch?« Und wisper, wisper, bsss.
Alle starren uns an, tuscheln. Ich werfe der Frau jenen Blick zu, den man denen zuwirft, von denen man will, daß sie wissen, daß man sie für total bescheuert hält. Sie steigt die Treppe weiter hinauf.
»Habe kein Wort verstanden«, sage ich erleichtert zu den Frauen hinter mir.
»Wir auch nicht«, nicken sie. »Das sollte wohl auch so sein.«
Langsam, langsam rücke ich dem Bärtigen näher. LISAS SCHATTEN ist trotzdem noch überlaut zu hören. Ich frage mich, wie man es schafft, eine halbe Stunde vor sich hinzufaseln und nicht müde zu werden. Noch drei, noch zwei, noch einer, dann endlich bin ich an der Reihe.
»Hast du reserviert?« fragt mich der Bärtige.
Ich schüttle den Kopf. »Gibt es noch Restkarten?«
»Eine Warteliste gibt’s.«
LISAS SCHATTEN ! LISAS HÄNDE …
»Ich weiß nicht, ob ich da draufstehen will. Wie lang ist sie denn? Wissen Sie schon, bis wann sich entscheidet, wie viele Karten…«
Ein Mann, offensichtlich zu den Veranstaltern gehörend, drängt sich neben mich. Er sagt zum Bärtigen: »Du kannst ruhig mehr Karten
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