Das bin doch ich
Fernsehen, daß sie wohl jeder kennt.
In der ersten Klasse erwartet mich eine Überraschung: Kein Mensch im Waggon, aber alle Plätze reserviert. Alle. Der ganze Großraumwaggon. Von Wiener Neustadt bis Graz, also etwa die halbe Strecke. Einen zweiten gibt es nicht. Eine Weile wandere ich konsterniert durch den Waggon und frage mich, was ich jetzt tun soll. Meine Karte kann ich nicht zurückgeben.
Ich setze mich auf den einzigen Platz, der nicht von Wiener Neustadt an reserviert ist, nämlich den, der laut Beschilderung den Passagieren mit Expreßreservierung vorbehalten ist. Eine Frau mit Trolley kommt herein. Ungefähr so ratlos muß Minuten zuvor ich ausgesehen haben. Sie liest die Reservierungen und wird sichtlich unruhig. Sie setzt sich zu mir, wir schimpfen über die Bahn. Ein Herr gesellt sich zu uns, dann noch einer. Nun sitzen vier Passagiere nebeneinander hinten im Waggon, auf den Sitzen der Expreßkartenbesitzer, und der Rest der Plätze ist unbesetzt.
Als der Zugbegleiter kommt, ist die Stimmung aufgeheizt, und er bekommt viel Unerfreuliches zu hören. Am wüstesten gebärdet sich ein unrasierter Kerl mit einem Feuermal auf der Stirn, der von den reservierten Plätzen auf den katastrophalen Allgemeinzustand des Waggons zu sprechen kommt und fragt, was an diesem Loch einer ersten Klasse würdig ist. Der Teppich auf dem Boden ist verdreckt, die Sitze sind abgewetzt, wofür bezahlt man eigentlich den Aufpreis usw. In seiner Hilflosigkeit sagt der Zugbegleiter: »Tun Sie sich bitte beruhigen!« Was den Fahrgast noch weiter aufbringt. Geschrei, Frage nach der Dienstnummer, Drohungen. Der Zugbegleiter, die Notwendigkeit einer Rücksprache mit Kollegen vorschützend, flüchtet.
Der Zug fährt los. Meine Laune wird besser, als die Bierbetreuerin kommt. Ich nehme Kaffee und einen Pennesalat mit Oliven und getrockneten Tomaten sowie eine asiatische Suppe. Nach dem Essen bin ich so zufrieden mit der Welt, daß mir meine Attacken gegen den Zugbegleiter leid tun. Ich nehme mir vor, ihm das zu sagen, aber er läßt sich nicht blicken.
Ich lese in der neuesten Ausgabe von Schach , ab und zu verschicke ich SMS . Der Schriftsteller-Schlaks erinnert mich, er wird am Abend auf 3sat zu sehen sein. Ich schreibe Else, sie soll die Sendung bitte aufzeichnen, denn ich bin sicher, daß ich um halb elf noch nicht zurück im Hotel sein werde. Mir ist ein wenig übel, vielleicht war etwas mit dem Pennesalat nicht in Ordnung.
Wiener Neustadt. Niemand steigt ein. Keine Reisegruppe, nicht einmal ein einzelner Gast. Niemand. Einer der Männer beginnt wild zu schimpfen, wir anderen lachen. Der ganze Waggon gehört uns, die Frau bleibt trotzdem neben mir sitzen. Ich überlege. Wäre es unhöflich, wenn ich mir einen neuen Platz suchte? Würde wohl schroff wirken.
Ich betrachte sie von der Seite. Wieso bleibt sie? Ist sie an mir interessiert? Ach was.
Die Fahrt über den Semmering hat mir noch nie gutgetan. Seit meiner Kindheit werde ich leicht reisekrank, und das wird sich wohl auch nicht mehr ändern. Aber was jetzt mit mir passiert, habe ich auf dieser Strecke noch nie erlebt. Innerhalb weniger Minuten bin ich total verschwitzt. Das Gefühl leichter Übelkeit wächst sich zur Gewißheit aus, mich bald übergeben zu müssen, und meine Verdauung spielt auch verrückt.
Ich renne aufs Klo. Erst stehen oder erst sitzen, was ist dringender? Sitzen.
Zugtoiletten gehören zu den widerlichsten Orten, und wenn ich öfter als zweimal auf einer gesessen habe, sollte es mich wundern. Jetzt gibt es kein Zögern für mich, keine Zeit, die Brille mit Papier abzudecken, und um mich wie eine Frau hinzuhocken, bin ich plötzlich zu schwach.
Und so sitze ich da, meine Eingeweide spielen Apokalypse, mir ist zum Sterben übel, und der Zug schwankt so stark in den Kurven, daß ich nicht weiß, ob ich rechtzeitig hinten fertig werde, ehe es vorne losgeht. Mein Gott, was ist das nun wieder? Meine Darmgrippe von vergangener Woche war offenbar doch noch nicht so ausgeheilt, wie ich angenommen hatte. Sogar Fieber habe ich, ich fühle es, und es macht mir angst.
Der Punkt ist erreicht, an dem es vorne kein Halten mehr gibt. Ich drehe mich um, der Zug schwankt weiter, und ich kotze. Die Magenkrämpfe sind noch weit schlimmer als letzte Woche. Als ich glaube, ich bin fertig, kommt der nächste Schwall. Der letzte ist der heftigste von allen, er ist so heftig, daß er mir die Brücke, die ich trage, seit mir vor fünfzehn Jahren meine damalige Freundin
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