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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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kann nicht zurück in die Kabine. »Ich werde dir aus dem Weg gehen.« Ich mache mir Sorgen um mein Scheißgepäck – ich bin wirklich widerlich.
    »Fick dich, Beth. Fick dich.«
    Steh auf und geh. Er wird sich nichts antun, er wird sich erholen. Ohne mich kann er glücklich sein. Ohne mich könnte ich auch glücklich sein.
    Doch er greift ihr Handgelenk, zerrt, ein rauer Griff, und küsst ihre Fingerknöchel – jedes Mal, als würde ich ihn langsam mit der Faust auf den Mund schlagen – während ihre Finger sich zusammenrollen, um ihre Privatsphäre zu schützen, und er müht sich, klammert, und sie muss sich losreißen, und das ist unschön, und er wird sich selbst dafür genauso hassen wie sie.
    Aber später wird er nur noch mich hassen.
    Hoffe ich. Das sollte er am Ende tun, und dann sollte er mich vergessen, aber mir nicht vergeben, denn ich bin unentschuldbar.
    FRAU STELLT FEST, DASS SIE FEIGE IST, UND WEISS, SIE WIRD ES WIEDER SEIN .

EIN MANN STEHT in einem Türrahmen. Er lehnt an der Schwelle eines Schlafzimmers in einer unbekannten Wohnung, es ist dunkel, aber er hat kein Licht angemacht. Er hat einen Namen, aber er mag ihn nicht, also lässt er ihn weg.
    Draußen ist Pimlico an einem Freitagabend, doch es ist still, denn der Regen hämmert gnadenlos und hält die Schwachen und Vernünftigen drinnen. Der Mann starrt auf das Prasseln am Fenster, die Mischung aus Lichtern, die sich darin brechen und winden, im fließenden Wasser gefangen: 24-Stunden-Minimarkt, Fish and Chick Inn , Zeitungskiosk, Spirituosenladen: lange geöffnet.
    Der Mann ist durstig und friert, hat vielleicht auch Hunger, aber das interessiert ihn nicht. Er macht sich keine Gedanken um seinen allgemeinen Zustand. Womöglich lehnt er schon eine Weile dort, vielleicht seit dem Nachmittag.
    Es wird rasch dunkel – November – unzivilisierter Monat.
    Eine Polizeisirene schwillt an und ab, irgendwo rechts von ihm – Verletzung, Notfall, Verbrechen – und wird dann leiser, verschwindet, während eine Frauenstimme schreit. Dieselbe Stimme schreit in unregelmäßigen Abständen seit mehreren Stunden. Der Mann hat angenommen, dass sie psychisch nicht in der Lage ist, nicht zu schreien.
    Komische Gegend, Pimlico – wirkt so, als ginge es aufwärts: ruhige, cremefarbene Regency-Fassaden, Geschäfte für Highend-Design, und Dolphin Square – natürlich Dolphin Square, das Nest für knausernde Adlige, Parlamentsabgeordnete, Inkognitos und Fremdgeher, für Singles und Spinner und Spione – diese Teile könnten fast Chelsea sein – aber dann gibt es die zwielichtigen Hotels und Waschsalons – hat schon mal jemand einen fröhlichen Waschsalon gesehen – und Straßenabschnitte wie diesen, dieser hier hegt irgendeinen Groll, ist aus dem Gleichgewicht, eine kaputte Atmosphäre, wo schlimme Dinge getan werden.
    Nicht gerade der Ort, wo du deine Mutter leben lassen würdest.
    Seine Mutter lebt allerdings auch nicht mehr – sie ist letzten Mittwoch gestorben, jetzt ist sie fort, aus dem Leben geschieden, abberufen worden, aus dem Weg.
    Sie wohnt für immer im glücklichen Sommerland.
    Der Mann hatte seine Mutter seit – er weiß es nicht ganz genau – aber wahrscheinlich seit 1984 nicht mehr gesehen. Dennoch ist er ihr einziger Sohn – ihr einziges Kind – und darum wurde er natürlich ausfindig gemacht und herbeigerufen, um ihre Leiche zu identifizieren. Er wünscht sich, sie hätte jemand anderen gehabt, um das zu tun – nicht um sich selbst den Ärger zu ersparen, sondern um das Gefühl zu haben, ihr Leben sei gesellig gewesen, hätte Zuneigung enthalten, die er verstehen und akzeptieren könnte. Doch nur dies war ihr geblieben: seine Abwesenheit und dann sein zu spätes Kommen, um einen kleinen Körper zu betrachten, einen grauen Körper mit Hautverletzungen. Und ihr armes Haar – es war schön gewesen, als er sie zuerst wahrnahm, sie war stolz darauf – die Krönung ihrer Schönheit, wurde jeden Abend gebürstet – das Ausklopfen der Bürste und das lange, trockene Geräusch eines jeden Bürstenstrichs, daran erinnert er sich deutlich – ihr armes Haar war dünn und strohig und traurig geworden.
    Schrecklich, sie sofort zu erkennen, wenn sie doch eigentlich nicht wiedererkennbar sein sollte. Das hätte ihr das Herz gebrochen.
    Du siehst mich nicht in vorteilhaftem Zustand.
    Medikamente.
    Psychische Erkrankungen.
    Und Probleme.
    In ihrer Wohnung hängt der süße, schwere Gestank von ängstlichem Trinken, und sie ist braun, überall

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