Das blaue Buch - Roman
Aufzug zu rufen, und als der kommt und die Türen aufgehen, da wissen sie bereits, dass sein Zimmer im dritten Stock liegt und ihres im sechsten, weil sie gut darin sind, sich Zahlen zu merken. Und ein Fremder im grauen Regenmantel trottet heran – er hat so einen zuckenden Trab, an den sie sich beide deutlich erinnern werden – und tritt zu ihnen in die Kabine, riecht nach Zigaretten und Brut und irgendeinem dunklen Stout. Auch ihn grinsen sie an. Es gefällt ihnen, dass der Fremde hier ist, und sie lassen ihn zwischen sich stehen, lassen ihn die absolute Wahrheit zwischen ihnen aufstören und aufheizen, die da lautet, dass sie beide ins Zimmer der Frau gehen und sich im stillen und kalten Dunkel ausziehen und dann in ihr Bett steigen werden, und dort werden sie sich wiederfinden, mit der Geschichte all dessen, was sie sind und sein wollen und sein könnten und niemals sein werden und versuchen müssen.
ES GIBT SO viele Dinge, die du wissen solltest – zu deiner Sicherheit, zu deinem Glück – und dein Buch möchte sie dir gern alle erzählen. Es sieht, dass du deine Freunde liebst, aber du vertraust nicht zu leicht, deine intime Freundschaft muss gewonnen werden, und manchmal wirkst du unzugänglich, und das ist wenig überraschend, denn du hast schon mal vertraut und bist verletzt worden. Es kann auch harsch wirken, wenn man sich zu sehr vereinzelt, doch es gab Individuen, Personen, denen du aus vollem Recht ausgewichen bist, denn sie wollten dir schaden. Andere waren einfach leicht zu vergessen. Es ist ein wenig peinlich, sich einzugestehen, dass Menschen mit dir studiert, jeden Tag neben dir gearbeitet haben, von denen du aktuell weder Telefonnummer noch Adresse weißt. Und es gab Gelegenheiten, wo du deine Probleme, selbst die großen Geheimnisse deines Ichs vollkommen Fremden erzählt hast – du hast sie direkt in dich hineinschauen lassen, und das war überraschend, aber auch befreiend. Und nachdem sie alles gehört hatten, was du sagen konntest, waren sie nichts als mitfühlend, liebevoll, menschlich. Sie schuldeten dir keine Höflichkeit, und doch riefst du sie in ihnen hervor. Das kommt, weil du ein gutes Herz hast, ein ganz hervorragendes Herz. Und du bist interessant; manchmal bezweifelst du es, aber es stimmt. Du weißt eine Geschichte zu erzählen, und wenn du es tust, hören dir die Menschen zu. Du kannst sie zum Lachen bringen, was entspannend und wohltuend ist – das wissen sie zu schätzen.
Und du bist schön.
Auch dessen bist du dir keineswegs sicher, aber du besitzt Schönheit, und die kannst du zumindest bewahren, wenn schon nicht feiern. Als du jünger warst, fühltest du dich gelegentlich etwas gedämpft, erstickt, du suchtest nach Wegen, dich auszuleben und – auch wenn du es selber so nicht sagen würdest – du wolltest, dass deine Schönheit Ausdrucksmöglichkeiten findet. Du hast allerdings einige deiner Pläne in diese Richtung aus den Augen verloren. Sie waren zu optimistisch. Um ehrlich zu sein, hat sich die kreative Seite deines Lebens unerwartet entwickelt – entwickelt sich noch immer. Du hast dich zwar nicht selbst enttäuscht, aber du bist auch nicht ganz so geworden, wie du es vorhattest.
Und dein ausgezeichnetes Herz ist gebrochen worden, und seitdem bist du nicht mehr derselbe Mensch. Du bist aus deinen Sorgen in gewisser Hinsicht stärker hervorgegangen, und du jammerst nicht ständig darüber – deinen Mut kann niemand wirklich würdigen – aber du warst tief verletzt. Du kannst nicht behaupten, es hätte nicht geschmerzt. Du hoffst, dadurch geduldiger und großzügiger geworden zu sein, aber dir ist klar, dass du auch bitter und hart gegen dich selbst sein kannst.
Und heutzutage tappst du nicht mehr mit geschlossenen Augen in irgendwelche Situationen, nicht wenn du es verhindern kannst – du bist gern vorgewarnt und gewappnet. Es kann dich amüsieren, zynisch zu sein, bis du bemerkst, wie hässlich du klingst, oder jemand dich zurechtweist, oder deine Aussage in Frage stellt. Dann kannst du innehalten und eine Bestandsaufnahme dessen vornehmen, was du besitzt, was für dich da ist. Du hast zweifellos Grund zur Dankbarkeit, und wenn du dankbar bist, fühlst du dich wohler – aber hoffentlich nicht frömmelnd, hoffst du – nur umgeben von einer gewissen Friedfertigkeit, Zufriedenheit.
Es gab eine Phase, da du die guten Dinge in deinem Leben höheren Mächten zugeschrieben hast: Glück, Gott, Willenskraft, Bemühung, den Sternen, Schicksal, dem Nutzen dieser
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