Das blaue Buch - Roman
oder jener Philosophie, dieses oder jenes Systems, deiner geistigen Stärke oder moralischen Disziplin. Inzwischen scheinen dir diese simplen Annahmen ziemlich naiv, und du bist dir deines Platzes im Gewebe der Wirklichkeit nicht mehr so sicher – wenn die Wirklichkeit überhaupt ein Gewebe ist, Struktur und Muster hat.
Als Kind konntest du leicht glauben – du warst anscheinend konditioniert, allen und jedem zu vertrauen. Das hat sich geändert, zum Teil, weil du so oft geneppt, genarrt, enttäuscht wurdest. Du glaubst auch weniger fest, weil du immer weiter lernst: Du bist für neue Informationen offen, und das kann deine Standpunkte verschieben. Deine Ansichten sind nicht in Stein gemeißelt. Allerdings änderst du sie auch nicht nur der Abwechslung wegen, bist nicht oberflächlich – obwohl jeder Mensch gern hin und wieder oberflächlich ist und sein darf, das muss nicht schaden. Du bist vielleicht flexibler und auch nachdenklicher als der Durchschnitt.
Es gab Fernsehsendungen und Filme, die du nur ironisch oder überhaupt nicht angeschaut hast, aber dir ist klar, dass andere sie für bare Münze genommen und akzeptiert haben, was du nicht hinnehmen konntest. Oft liest du Zeitungen und hörst die Schlagzeilen später nachgeplappert, ungetrübt von eigenständigen Gedanken, abgestandene Ideen im Mund von Fremden, und das kann verstörend sein. Es macht dir Sorgen, dass es da draußen wirklich wahre Gläubige gibt, die wie rücksichtslose Kleinkinder unbedingt ihren Willen bekommen müssen und hoffen, die ganze menschliche Spezies nach ihrem Bild zu formen: den ungezügelten Markt zu entfesseln, oder die ungezügelte Regierung, oder ungezügelte Gebote von gnadenlosen Göttern. Du hast den Verdacht, dass sie dich mit mythischen Peitschen zeichnen, dich in ihren Geschichten, Träumen, Gesetzen herrichten wollen, so dass du in dieser und in der kommenden Welt bluten wirst. Ihr Getue kann lächerlich wirken, ist aber auch ein echtes Risiko.
Was du deinen derzeitigen Glauben nennen könntest, ist eine komplexe, erwachsene Angelegenheit. Gott und Tod sind für dich austauschbare Konzepte: bedrohlich, geheimnisvoll, leer, lachhaft, außer Reichweite: Beide können seltsam tröstlich und ein schlechter Witz sein. Du würdest gern ein intelligentes und liebevolles Universum bewohnen, doch es hat sich unwillig gezeigt, auch nur eines von beiden zu sein. Dennoch kennst du Trost: Tiere, Landschaften, Naturerscheinungen, Vogelgesänge, die Kontinuität von Genen und Mineralen – dass blaue Augen blaue Augen zeugen, der Kohlenstoff in Sternen und Knochen – und so viel, so viel, so viel Musik. Das können dir Freuden sein, während viele der Rituale deiner Kindheit dich nicht mehr beeindrucken und es dich an manchen Tagen eher verstört, wenn du eingehender über sie nachdenkst.
Und du bist nicht abergläubisch.
Angewohnheiten und Glücksbringer dieser oder jener Art können dein Selbstvertrauen stärken, das ist akzeptiert, aber du würdest dich nicht eher auf sie verlassen als auf gründliche Vorbereitung oder deine persönlichen Qualitäten. Du räumst ein, dass sie dir in angespannten Situationen einen gewissen Schub verleihen können. Vielleicht liest du in der Zeitung dein Horoskop, aber das ist bloß ein Spaß – die denken sich Journalisten aus, sie bestehen aus offenkundig unspezifischen Vermutungen, verhüllten Komplimenten und weniger verhüllten Drohungen. Wenn Astrologen wirklich Einblick hätten, dann hätten sie uns allen schon längst von den zusätzlichen Planeten berichten können, die weit draußen die Sonne umkreisen: Sedna, Eris, Vesta und der Rest – die hätten sie dann doch sicher längst kartographiert. Ganze Planeten – das sind ja schließlich keine Zweitschlüssel oder Brillen – die kann man leicht verlegen. Du findest dieses Argument in keiner Weise unfair.
Unter Druck kannst du eine Spur irrational reagieren, und das kann bedeuten, dass dir Kollegen oder Familienmitglieder hinderlich erscheinen, oder deine Umgebung dir eine Weile feindlich vorkommt: Straßen und Verkehr verklumpen, die Umgebung windet sich aus verfügbaren Karten. Manche Tage haben offensichtlich einen Strich, und du spürst, wie du gegen ihn anbürstest, doch deine Anspannungen gehen vorüber, und sie sind selten so groß, dass du sie nicht unter Kontrolle bekommst. Vielleicht klopfst du tatsächlich auf Holz, wirfst dir Salz über die Schulter, wenn du welches verschüttest – aber das sind eher kulturelle
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