Das blaue Haus (German Edition)
Alles war taub. Es war, als gehörte er sich nicht mehr. Weder seine Hände noch seine Beine wollten ihm gehorchen.
Die Schritte kamen näher. Panik ergriff ihn. Er versuchte, seine Finger zu bearbeiten. Sie ließen sich langsam bewegen, waren taub.
Die Schritte verstummten. Dane sah auf. Eine alte Dame suchte sich neben ihm einen Platz auf seiner Bank und lächelte ihn an. Sie sah einsam aus und begann, ein Butterbrot mit ihren gichtverformten Händen auszupacken. Das teilte sie mit den wenigen Enten, die hier in diesem Park geblieben waren – jeden Morgen: im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter. Die alte Dame hatte nur noch die Enten.
Ihre Augen hatten Hängelider, aber sie war unverkennbar einmal sehr hübsch gewesen. Jetzt trug sie Krampfadern und viel zu viel Gewicht mit sich herum.
Die Sonne schickte das erste Tageslicht durch den schneeschweren Himmel. Kleine Flocken schwebten schwerelos zu Boden. Die alte Dame fror, genau wie Dane. Eine seltsame Schweigsamkeit umgab beide.
Sollte er sie ansprechen? Er brauchte Geld für Essen und ein Zimmer. Er brauchte Wärme. Doch er knetete an seine Fingern herum und starrte ins Leere.
Wie gerne hätte die Frau sich wieder einmal mit einem Menschen unterhalten und gelacht. Sie besaß einen Humor, den sie schon lange nicht mehr benutzt hatte – eigentlich, seit ihre Familie sie verlassen hatte. Die Anonymität der Großstadt wollte ihr keine neuen Freunde schenken, obwohl sie sich täglich oft stundenlang unter die Menschen mischte. Doch meist sah sie alle nur an sich vorübergehen, und ihr Kaffee, den sie immer an der Ecke in dem kleinen Café trank, wurde jeden Tag kalt. Dann dachte sie an die Enten, die sie jeden Morgen nach einer schlaflosen Nacht besuchte.
Dane sah, wie sie das Brot auswarf. Ein Duft von frischer Seife schwebte trotz klirrender Kälte zu ihm herüber. Er sog ihn ein und dachte an seine Mutter, die heute vielleicht genauso aussehen würde, wenn sie nicht diese grausame Tuberkulose bekommen hätte. Er hatte sie bis in den Tod begleitet und dann nichts als Einsamkeit gespürt. Es hatte ihm das Verständnis für die Gerechtigkeit genommen. Warum musste alles so verkehrt in seinem Leben sein? Warum konnte er sich nicht einfach an diese Dame wenden und mit ihr reden? Die Frau sah so aus, als ob auch ihr das gut tun würde. Vielleicht hatte sie ein warmes Zuhause, und er konnte dort mit ihr einen warmen Kaffee trinken. Was hielt ihn ab?
Er drückte seine Zeigefinger auf die Schläfen, und die Wenn‘s und Aber‘s erschienen wieder. Er kannte diese Dame nicht. Wie würde sie reagieren, wenn sie ihn erkennen würde? Sie war einsam, eindeutig. Einsame Menschen lesen viel Zeitung, um überhaupt etwas zu tun, das sie am Gesellschaftsleben teilnehmen ließ. Ein sehnsüchtiges Gespräch könnte zu einer bösen Falle werden, obwohl die Dame nicht so aussah, als ob sie ihn verraten würde.
Dane sah die Dame missmutig an und quälte sich plötzlich mit einem Gedanken herum, der ihm ebenso absurd wie willkommen erschien. Er sah auf ihre Handtasche, die zwischen beiden auf der Bank lag. Der Gedanke war ihm zuwider, aber realistischer als ein Gespräch, als ein warmer Kaffee in einer Wohnung, von der er nicht wusste, ob er dort sicher sein würde.
Er ließ das Band zu ihr reißen und betrachtete nüchtern die Handtasche. Es tat ihm irgendwie leid, sie so hinterhältig zu bestehlen, aber was blieb ihm anderes übrig? Es ging um sein Leben. Er sah ihr Gesicht nicht mehr, roch nicht mehr den Duft ihrer Seife und dachte nicht mehr an seine Mutter. Alles löste sich von ihm, nur ein berechnend kalter Blick zu der Handtasche blieb übrig. Dann ein taxierender Blick in die Umgebung, und mit einer einzigen geräuschlosen Bewegung entwendete er die Tasche und humpelte davon. Würde sie es bemerken? Würde sie ihm folgen? Wie schnell konnte er laufen? Konnte er überhaupt laufen? Er sah sich um. Die Dame hatte nichts bemerkt. Sie war zu sehr mit ihrer Einsamkeit und den Enten beschäftigt. Erst als die Enten ihr Brot aufgepickt hatten, bemerkte sie den Diebstahl.
Eine öffentliche Toilettenanlage bot Dane die Gelegenheit, seine Dinge zu regeln. Er schloss sich in einer Kabine ein und öffnete die alte Kunstledertasche. Den Inhalt verstreute er auf dem Boden. Seine Finger waren zu steif, um hineinzugreifen. Es war nicht viel, was er vorfand, aber immerhin waren in der Lederbörse einundneunzig Dollar. Die würden reichen, bis ihm etwas Neues einfiel. Keine Kreditkarten,
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