Das blaue Haus (German Edition)
wieder an Sex. Hatte Julie das ausgelöst?
Ragee schlief noch. Draußen war es dunkel. Neuer Schneefall hatte in der Nacht eingesetzt und die Stadt damit zugedeckt. Durch die Tür drangen die Geräusche der morgendlichen Krankenhausroutine. Die ersten Toilettenspülungen liefen, und Plastikspritzen klapperten herum. Heute sollte es losgehen.
Das Zusammentreffen mit diesem alten Ragee war sonderbar, aber noch sonderbarer sollte die Zeit mit ihm werden – einem sechsundachtzig Jahre alten Verrückten. Dass er verrückt war, war offensichtlich. Doch es war eine kluge Verrücktheit. Wahrscheinlich die Einzige, um den Weg des Unmöglichen zu gehen.
Dane dachte an Julie. Sie wollte Sex mit ihm, das war eindeutig. Das hatte vielleicht doch seine Träume in der Nacht ausgelöst. Er konnte es verstehen. Sie war jung, hübsch, intelligent – und einsam. Sex mit Julie, dachte er. Nur Sex, nicht mehr. Aber war es das, was Julie wollte? Was, wenn er einen Flächenbrand entfachen würde für reinen Sex? Ragee würde vielleicht ernüchtern und ihn zum Teufel jagen – und die Polizei gleich hinterher. Doch Sex war nicht schlecht – mit Julie. Vielleicht das erste Mal für sie. Wer wusste es schon? Er konnte sich nicht erinnern, je eine Frau entjungfert zu haben. Julie war anspruchsvoll. Sie wollte mehr als Sex, aber das konnte er unmöglich zulassen. Julie gab ihm nichts, nur eben die Lust, nach so langer Zeit der Entbehrung. Er hatte schon mit vielen Frauen geschlafen und dabei gewiss nicht gezählt, lange vor Sarah. Auch mit Männern.
Seine Bisexualität war lange ein Geheimnis gewesen, bis er sie selbst im Wahn seines Amoklaufs herausgeplaudert hatte. Er wusste nicht, ob die Presse auch darüber berichtet hatte, oder ob Ragee es überhaupt wusste.
Ragee stöhnte, drehte sich um und schlief leise weiter. Dane ging zur Toilette und sah, dass die Schwestern schon das Nebenzimmer für den Tag richteten. Julie war nicht unter ihnen. Als er wieder das Zimmer betrat, saß Ragee auf dem Bett und hatte ein Fieberthermometer im Mund. Jessie maß seinen Puls. Zehn Minuten später war der allmorgendliche Überfall beendet und die zwei Männer wieder allein.
„Hab‘ ich in der Nacht gesprochen?“, wollte Dane wissen und schaute den Alten unsicher an.
„Guten Morgen, Alan.“ Ragee sah nicht hin.
„Ja. – Habe ich im Schlaf gesprochen?“
„Ich sagte Guten Morgen.“
„Ja, habe ich gehört. Morgen.“
„Du stresst. Muss das am Morgen sein?“
„Wo liegt der Stress bei meiner Frage?“
„In der Sorge, du könntest in der Nacht etwas ausgeplaudert haben, das ich nicht hören sollte.“
„Scheiße, ich habe gesprochen.“
„Du stresst schon wieder. Kaum wollen wir hier raus, stresst du. Warum hast du mich das nicht die letzten Tage gefragt?“
„Da hatte ich keine Träume.“
„Redest du im Traum?“
„Ich glaube, ja.“
„Weißt du es, oder glaubst du es?“
„Ich weiß, dass ich es oft getan habe. Ich habe einmal meine ganze Kindheit geträumt und dabei gesprochen.“
„Was hast du heute geträumt?“
„Wenn ich gesprochen habe, weißt du es.“
„Ich habe nichts gehört.“
„Gut, dann will ich auch nicht darüber reden.“
„Ich möchte gerne ... nein ... anders, ... es wäre schön, wenn du lernen könntest, in Zukunft über alles mit mir zu sprechen: Unangenehmes, Peinliches, aber auch Schönes und Glückliches. Das erstellt eine Waage, die zeigt, wohin du zur Zeit tendierst.“
„Ist das nicht ziemlich offensichtlich, oder ist es meine erste Aufgabe?“
„Nein. Die ist schwieriger, aber du hast sie schon verpatzt.“
„Wie kann ich das?“ Beide saßen auf ihren Betten, ließen ihre Füße im Freien baumeln und starrten den blankpolierten alten Kunststoffboden an.
„Es ging um deinen ersten Gedanken. Er war voller Angst und negativ. Dein erster Gedanke sollte positiv sein. Es stellt sich die Frage: Auf was freue ich mich heute besonders?“
„Wie kann ich das, wenn ich nicht weiß, was auf mich zukommt?“
„Du hast doch Fantasie. Lass sie leben. Nur einen Gedanke, auf den du dich freust, schnell, denke nach.“
„Ich freue mich auf dein Haus. Wie mag es wohl aussehen?“
„Sehr gut. Und jetzt nicht weiterdenken. Nur diesen einen Gedanken leben lassen, nur das Positive, sonst nichts. Es wird dich kribbeln. Stelle dir mein Haus vor. Es wird dich erfreuen. Jetzt geh ins Bad und stutze anständig deinen Bart. Wir gehen heute hier raus.“
Ragee wusste, dass Dane etwas ganz anderes gemeint hatte. Es war das
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