Das blaue Haus (German Edition)
meine Mutter nachgedacht.“
„Bist du zu einem Ergebnis gekommen?“
„So annähernd.“
Der Alte schlürfte den Rest seines Kaffees und nickte.
„Es ist schwer, sie plötzlich völlig anders zu sehen.“
Ragee nickte erneut. „Sie hat viel versäumt.“
„Ja.“
„Wie lange ist dir das mit deiner Mutter wirklich bewusst?“ Er beobachtete Dane. Der sah durch das große Wohnzimmerfenster in den Abendhimmel. „So wirklich bewusst erst seit heute Nacht. Du bist der Erste, der angefangen hat, sie infrage zu stellen. Früher hätte ich so etwas nie zugelassen.“
Ragee lächelte. Dane fuhr fort: „Es war plötzlich alles so klar und so komisch befreiend, als ob mir jemand eine große Last genommen hätte.“
„Du hast gemerkt, dass mit deinen Gefühlen etwas nicht stimmt und dein Weg sich verändern muss, Dane. Dein Verstand muss jetzt viel arbeiten.“ Ragee setzte langsam seinen Schaukelstuhl in Gang und blickte zufrieden drein.
„Was ist mit meiner Übung heute Abend?“, fragte Dane.
„Mach sie“, lächelte Ragee, und Dane begann laut vor sich hinzureden: „Was hat mir heute gut gefallen? Die Corvette. Wenn ich aufzählen müsste, was mir heute nicht gefallen hat …“
„Stop“, unterbrach ihn der Alte. „Nur das Gute. Nichts weiter. Das andere gehört hier nicht her.“
Du willst es nicht hören, dachte Dane.
„Nimm das alles mit in dein Zimmer“, sagte Ragee leise und schaukelte dabei. „Und lass keinen anderen Gedanken dazwischen.“
Der nächste Tag war merkwürdig ruhig. Ragee fragte nach nichts und Dane erzählte nichts. Gegen Abend gingen sie in die Stadt. Die Weihnachtsbeleuchtung war schön. Am nächsten Tag wurde sie demontiert.
*
Dane bemerkte schon nach wenigen Tagen, wie sich etwas in ihm zu verändern begann. Dinge wie Frühstücken, Lesen, Spazierengehen und Einkaufen begannen ihn mit Freude zu erfüllen. Sogar der lästige Wohnungsputz bereitete ihm Spaß. Ragee hatte sonst Sabrina, eine kleine korpulente Mexikanerin, die alle zwei Tage kam, wenn er in Salina war. Aber er brauchte sie diesmal nicht. Sabrinas Arbeit war zu einem Teil von Danes Therapie geworden – um nicht zu sagen, einer Therapie für beide.
Dane dachte jeden Abend, wenn er allein in seinem Zimmer war, über seine Mutter nach – über das, was er selbst über sie gesagt hatte. Er dachte über die Zeit in seiner Kindheit nach, als er fast täglich von seinem Vater angefasst wurde oder ihm dienlich sein musste; über die Zeit seiner Jugend, als sein Vater von der Farm verschwunden war und er alleine mit seiner Mutter die Farm neben seiner Ausbildung betrieben hatte; an die Zeit, als sie an offener Tuberkulose erkrankt war und er sie bis zum Tod gepflegt und von seinem wenigen Einkommen ihre Behandlung bezahlt hatte.
Da war immer dieses Schweigen gewesen, selbst als sein Vater in die Armee einberufen wurde. Nie brach sie dieses Schweigen und hatte ihn schuldfrei gesprochen. Sie war jetzt nicht mehr so makellos, aber auch nicht ganz verloren. Er unterschied die wirklich schöne Zeit mit ihr von der furchtbaren und erhielt sich so einen kleinen Teil seiner Liebe zu ihr, der ausreichte, um sie in guter Erinnerung zu halten. Er hatte es geschafft, seiner Mutter den Platz in seinem Herzen zuzuweisen, der ihr wirklich zustand. Er vergab ihr und begann, sich selbst auf eine merkwürdige Art zu verstehen. Er war einen Schritt vorangekommen.
Sarah kam ihm wieder in den Sinn.
*
Julie hatte sich die ganze Woche nicht gemeldet, was den beiden schon wieder unheimlich war. Es braute sich etwas zusammen, das ahnten sie.
Der Fernseher war an diesem Abend aus. Die extreme Kälte des Winters hatte den Kabelempfang gestört und auch das Radio damit verbannt.
Dane hatte vorgestern gegen den Willen des alten Mannes seinen Oberlippenbart entfernt und stellte sich ganz klar wieder als Dane Gelton dar. Sein Gesicht wirkte entspannt und voller Zuversicht.
Am 15. Januar, einen Tag vor seinem 42. Geburtstag, fiel das Wort Vater zum ersten Mal – von Ragee. Und nicht ganz unbedacht. Das begann so:
„Möchtest du mal Vater werden?“, fragte Ragee aufmerksam.
Es war Zeit.
Vater werden, dachte Dane und wurde unruhig. Er dachte an Sarah. Warum hatte er nach seiner Flucht aus Heaven erzählt, Sarah würde ein Kind von ihm bekommen? War es sein sehnlichster Wunsch gewesen?
Er wollte eigentlich gar nicht auf die Frage von Ragee eingehen, denn er wusste, was er damit heraufbeschwören würde. Etwas, das er jetzt ganz sicherlich nicht wollte.
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