Das blaue Siegel
angeschossen hatte, die nun noch über mehrere Meilen verfolgt werden mussten, ehe sie zusammenbrachen.
Das war nicht Johns Aufgabe. Seine Verletzung war zwar gut verheilt, hinderte ihn aber noch immer daran, schnell oder weit zu laufen. Er holte sich das Gewehr, das die davoneilenden Jäger für ihn zurückgelassen hatten, lud es und sah sich dann auf dem Schlachtfeld um. Zwei Tiere lagen tot, eines sterbend im Schnee. Vor Anstrengung keuchend zog er sie an einem Platz zusammen, trank sich satt am Blut eines jungen Bullen und ordnete dann seine Waffen: zwei Messer, das Gewehr, sein Feuerzeug und die Pechfackeln. Anschließend schob er seine vor Kälte schon fast abgestorbenen Hände in die Scheide der noch zuckenden Kuh, die erstaunlich lange warm blieb. Als er seine Finger wieder bewegen konnte, setzte er sich auf die Kadaver, entzündete seine Pfeife, zog die Handschuhe wieder an und wartete auf die Wölfe.
98.
Nichts von alledem, was sie mit ihrer Kindheit im Palast von Farhat Bakhsh zurückgelassen hatte, war mehr da – mit einer Ausnahme. Zinat Mahal freute sich wahrhaftig wie ein Kind, als ihre Diener beim Herrichten ihrer Räume die große Schaukel fanden. Die Polster und schweren Brokatstoffe, die sie einst so bequem gemacht hatten, waren nicht mehr vorhanden und eigentlich nicht mehr als die bloße Holzkonstruktion mit den eisernen Ringen übrig. Aber Polster und Kissen und feste, mit Goldfäden umwundene Stricke ließen sich leicht ersetzen. Die Deckenbalken waren auch noch stabil, und bald stand sie vor dem neu aufgehängten wunderbaren Spielgerät ihrer Kindheit.
Sechs ihrer Dienerinnen mussten die Plattform besteigen, um herauszufinden, ob alles noch funktionierte, und die Königin freute sich diebisch, als den Frauen schon nach kurzer Zeit des Hin- und Herschwingens schlecht wurde. Ihren Schwestern war auch immer schlecht geworden. Nur ihr selbst konnte die große Schaukel nie zu schnell, zu lange oder zu hoch schwingen, und schon als kleines Mädchen hatte sie herausgefunden, woran das lag: Man durfte sich nicht vorstellen, dass man sich selbst bewegte, hin und her, auf und ab durch den Raum flog, sondern fest daran glauben, dass es die Erde war, die um einen herumtanzte. Nur Kinder und Könige haben diese Macht, und jeder Tag fand nun Zinat Mahal auf ihrer großen Schaukel, während die Welt an ihr vorüberglitt, um sie zu erheitern.
Auch als der Amerikaner wieder genesen war und um eine Audienz bat, wollte sie auf dieses Vergnügen nicht verzichten und ließ, um die Purdha zu wahren, einmal mehr den großen Vorhang quer durch den Saal spannen, den der Luftzug immer wieder aufbauschte. Gowers konnte sich das zunächst nicht erklären. Er glaubte an einen riesigen Fächer, schon mehr eine Art Maschine, mit der die Königin von Delhi sich Kühlung verschaffen ließ.
»Begum, das ist Coryate-Babu, der mich von meiner Krankheit geheilt hat. Darf er bei unserer Unterredung anwesend sein?«
Zinat Mahal wusste natürlich von dem Sadhu , der seit gestern in den Räumen des Investigators wohnte, hatte auch mehrmals nach ihm gefragt, aber nicht einmal Ishrat konnte sagen, wie der Amerikaner den alten Mann oder der alte Mann den Amerikaner kennengelernt hatte und was sie verband. Nur, dass er Digambara war, hatte sich im Palast rasch herumgesprochen, und die Königin antwortete huldvoll: »Der Heilige darf auch auf diese Seite der Purdha kommen, damit wir ihn sehen können.« Zinat Mahal und ihre Hofdamen, Dienerinnen, senkten die Köpfe, als der alte Mann vor ihnen stand, und grüßten ihn fromm, die Fingerspitzen aneinandergepresst, während die Königin das Gespräch fortsetzte.
»Nun, Mr. Gowers, wir sind in Lakhnau, wie Sie es wollten«, sagte sie. »Was haben Sie also herausgefunden?«
»Es gibt mehr als einen Mörder, Begum«, antwortete Gowers, der sich nun natürlich erst recht fragte, was hinter dem Vorhang vor sich ging. »Und die Rache, die sie treibt, richtet sich nicht gegen das Königshaus von Delhi, sondern gegen Sie persönlich.«
»Ich bin das Königshaus, Mr. Gowers!«, sagte Zinat Mahal so würdevoll, wie sich das auf der großen Schaukel nur machen ließ.
»Nun, aber Sie waren es nicht immer. Ich vermute, die Rache bezieht sich auf etwas, das älter ist als Ihre Verbindung mit Delhi.«
»Was veranlasst Sie zu dieser Vermutung?«
»Dass stets nur Ihre Kinder und Kindeskinder betroffen waren. Was können Sie mir über das Königreich Gwalior sagen?«
»Die Feindschaft
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