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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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ermittelt werden konnte. Wynniat sagte jedenfalls immer, er habe niemanden bemerkt. Aber schließlich bemerkte man ihn. Samuel Creswell, der Zweite Offizier, hegte den traurigen Verdacht, blieb eines Tages wach und ertappte den Leutnant mit offenem Mund, ehe das Wort noch verklungen war.
    »Bobby!«, rief er betroffen. Wynniat drehte sich um, die Augen weit aufgerissen, die Zähne gebleckt. Creswell glaubte einen Moment lang, sein Freund und Schiffskamerad würde sich auf ihn stürzen, aber dann rannte der junge Mann schon hinaus auf das Eis und in die Dunkelheit, wobei er wild kreischte und lachte, ehe er zu einer lauten Imitation des Wolfsgeheuls überging. Der Aufruhr weckte das ganze Schiff. Wie betäubt standen die Männer an Deck und sahen eine halbe Stunde lang zu, wie der Offizier – ein kleiner tobender Schatten auf dem Eis – hin und her rannte und zwischen seinem grausigen Geheul die obszönsten Verwünschungen in den gnadenlosen kalten Himmel schrie.
    »Mr. Kerr«, befahl McClure schließlich dem Kanonier und Hauptmann der Seesoldaten, »nehmen Sie drei Männer und bringen Sie Mr. Wynniat zurück an Bord!«
    Der Schiffsarzt, Armstrong, hatte wenig Erfahrung mit Geisteskrankheiten, und so konnte man für den jungen Mann wenig mehr tun, als ihn in seiner Koje festzubinden und ihm warme Suppen und beruhigende Tees einzuflößen. Von dem kostbaren Morphium, das für die Amputation erfrorener Zehen und Finger dringend gebraucht wurde, gab der Arzt diesem Patienten nur auf ausdrücklichen Befehl des Kapitäns hin und wieder eine kleine Dosis, wenn das Geschrei gar nicht mehr zu ertragen war.
    Anders als der beständig weinende Mark Bradbury beruhigte sich Wynniats Zustand nicht wieder. Selbst wenn der Leutnant bester Laune war, pflegte er laut »Fotzen, Fotzen, Fotzen, Fotzen« vor sich hin zu sagen; der Normalzustand aber war Heulen und Brüllen. Wenn es zu schlimm wurde, ließ man ihn gelegentlich auf das Eis hinauslaufen, um sich auszutoben. Miertsching teilte dem Arzt und dem Kapitän mit, dass die langen Polarnächte bei den Eskimos in Labrador bisweilen einen ähnlichen Zustand hervorriefen, von dem aber vorwiegend Frauen betroffen wären. Man nenne diese Erkrankung Piblokto oder auch Perlerorneq , was so viel bedeute wie »das Gewicht des Lebens fühlen«. Die Frauen rissen sich dann sämtliche Kleider vom Leib, liefen in den Schnee hinaus und erfrören, wenn man sie nicht rechtzeitig zurückhole.
    McClure, nach drei Jahren im Eis zu dünnhäutig für etymologische und ethnografische Betrachtungen, befahl seinem Dolmetscher barsch, derartige Informationen gefälligst für sich zu behalten, da die Vorstellung von nackten Frauen auf dem Eis die ohnehin erschütterten Gemüter der Männer wohl kaum stabilisieren würde. Miertsching zog sich daraufhin verletzt aus allen weiteren Gesprächen zurück und verließ das Schiff bei jeder Gelegenheit und so lange er es draußen in der apokalyptischen Kälte nur aushalten konnte. Auch mit dem Matrosen Gowers war nicht mehr vernünftig zu reden.
    John verkaufte jetzt eifrig die Tabakvorräte, die er im letzten Winter gehortet hatte, da Tabak an Bord ansonsten allmählich knapper wurde und wieder rationiert worden war. Er ließ sich in Schuldscheinen bezahlen, ausgestellt auf die Summe, die jeder Mann in England für die Entdeckung der Nordwestpassage erhalten würde. Insofern war der Junge einer der wenigen, die noch immer unverdrossen auf eine glückliche Heimkehr hofften. In ihrer Gedächtnisschule waren sie bei dem System des Raymundus Lullus angelangt, und Miertsching benutzte diesen mittelalterlichen spanischen Mystiker, den die Heiden in Afrika zu Tode gesteinigt hatten, für den so sorgfältig vorbereiteten Missionierungsversuch an dem jungen Matrosen.
    Der fromme alte Spanier hatte eine Art Gedächtnismaschine ersonnen, in der die Gedächtnisräume nicht mehr starr aufeinanderfolgten wie in einem Gebäude, sondern nach einem einfachen mechanischen Prinzip immer neu miteinander kombiniert werden konnten. Man denke sich das Zifferblatt einer Uhr; aber anstelle der üblichen zwölf Stunden nehme man darauf ihrer vierundzwanzig an, wie es im Mittelmeerraum bis heute gebräuchlich ist. Nun betrachte man die Abstände zwischen den Stunden als je einen Raum, ein Segment, in das man die vierundzwanzig Buchstaben des lateinischen Alphabets einsetzt. Man hat dann vierundzwanzig wie auf einem Ring aufgereihte Gedächtnisräume, in denen man seine Gedächtnisbilder

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