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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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niemand einem gläubigen Hindu das Recht streitig, sich diese Haken durch die Rücken- oder Brustmuskulatur treiben und sich daran aufhängen zu lassen wie einen Regenwurm an einer überdimensionalen Angel. Tatsächlich stand eine ganze Schar der aschebedeckten nackten Männer, von religiösem Fanatismus und diversen Rauschgiften aufgepeitscht, sozusagen Schlange, um sich als Köder für den Segen irgendeiner Gottheit durch die Luft wirbeln zu lassen.
    »Ein Büßerritual«, flüsterte Coryate, als der Investigator ihn fragend anschaute. »Jeder dieser Männer hat irgendeine Schuld auf sich geladen – nur er selbst weiß, welche. Und auf diese Weise kann er sich davon befreien, John Gowers.«
    Vielstimmige Schreie der Menge begleiteten das Hochziehen der Büßer, eine Art freudiges Oh! und Ah!, das sich zu einem langgezogenen Jubel steigerte, während der Mann durch die Zentrifugalkraft des Drehens langsam höher und höher gewirbelt wurde und seine Haut, seine Muskeln sich durch den Zug der Haken fast grotesk überdehnten.
    »Wie lange muss er das aushalten?«, fragte Gowers.
    »Nur er selbst weiß, wann seine Schuld getilgt ist«, erwiderte Coryate. »Und dann – aber sehen Sie selbst!« Der Mann am Haken, hoch über ihren Köpfen, der die Augen fest geschlossen, aber den Mund vor Qual weit geöffnet hatte, breitete in diesem Moment seine Arme aus. Langsam öffneten sich seine zu Fäusten geballten Hände, und kleine Blumen, von der Fliehkraft erstaunlich weit getragen, regneten auf die Menge. Kinder, Mädchen und junge Frauen sprangen, hüpften, bückten sich danach und huschten sogar auf dem Boden hin und her, um eine dieser himmlischen Gaben zu erwischen. Shiva hatte dem Mann dort oben vergeben, und so würde ein Teil seiner Gnade auch sie treffen.
    Der Blumenregen, den der Aufgehängte aus seinen Fäusten entließ, war der Höhepunkt und zugleich das Zeichen für das Ende seiner Buße. Die Männer, die ihn drehten, verlangsamten daraufhin ihren Schritt und ließen ihn stetig herab, um seine Muskeln nicht zuletzt durch einen plötzlichen Ruck zu zerreißen. Manche der Büßer kamen ohnmächtig auf den Boden zurück; andere, am meisten umjubelt, standen auf ihren eigenen Beinen. Mit glasigen Augen taumelten sie in ein neues, gereinigtes Leben, während ihr Nachfolger schon angehakt wurde und die Männer, die ihn herumschwangen, mehr und mehr in Schweiß gerieten.
    Bei einem der Büßer wurde der Jubel vor allem der Kinder zu einem hellen Jauchzen, und Coryate grinste. »Manchmal streuen sie auch kleine Kuchen oder andere Süßigkeiten.«
    »Mahlzeit!«, sagte Gowers eher trocken als angewidert, denn auch Blutstropfen fielen zwangsläufig hier und da auf die Zuschauer.
    Je höher die Sonne stieg, desto wilder wurde das Treiben. Die Feuchtigkeit der Erde zwischen all diesen Flussläufen, das Rasen der Menge, das Blut – alles verschwamm zu einer Art Dunstglocke, die sich mehr und mehr aufheizte, bis die beiden Wanderer, schon weit im Mittag, weiterzogen. Auch als sie den Festplatz lange hinter sich gelassen hatten und der Straße durch weite, offene Felder folgten, schwitzte Gowers noch wie ein Verdammter. Erst ein Mal in seinem Leben, an einem gänzlich anderen Ende der Welt, hatte er so sehr das Gefühl gehabt, nicht dorthin zu gehören, wo er war.
     

106.
     
    Die Temperatur sank mit minus achtundsechzig Grad Celsius auf den niedrigsten Wert, den Menschen bis dahin gemessen hatten. Diese Kälte machte an Deck und im Freien manchmal sogar das Sprechen unmöglich. Die Kiefer, alle Gesichtsmuskeln schmerzten beim Öffnen des Mundes, und man hatte das Gefühl, dass die eigenen Worte in der Luft gefroren.
    Das Leben zog sich immer weiter zurück; vom Eis auf Deck, vom Deck in den kalten, finsteren Schiffsraum, von der Gemeinschaft ins Individuum und aus den Extremitäten, dem Kopf in ihre ständig hungrigen Bäuche. Sie vegetierten – und sogar Miertsching, der Missionar, sah keinen Sinn mehr in ihren Leiden. Er schrieb nur noch selten, vielleicht alle drei Wochen, etwas in sein Tagebuch: kurze, bittere Worte. Zahnschmerzen plagten ihn – und sein unmittelbarer Wandnachbar Leutnant Wynniat, der kurze Zeit nach dem armen Bradbury gleichfalls verrückt geworden war.
    Es begann mit einem irren Kreischen in der Nacht, das die Grabesstille an Bord zuverlässig immer dann zerriss, wenn der Leutnant Wache hatte: »FOTZEN!« Langgezogen und schrill, aber immer nur einmal, sodass der Täter eine Zeit lang nicht

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