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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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schon?«
     

105.
     
    Die Landschaft änderte sich allmählich. Das fruchtbare Schwemmland des Uttar Pradesh wurde feuchter, sumpfiger, die Luft schwerer. Der Übergang in das Tiefland von Bengalen und Hindustan rückte näher. Gonda war die erste rein indische Stadt, in die der Investigator kam; es gab hier keine britische Garnison, keine Kolonialherren, Residenzen, Villen, Handelshäuser. Sie waren jetzt in einem Indien, in dem selbst die Sandsteinpaläste und Moscheen der Mogulzeit noch nach zwei Jahrhunderten seltsam fremd wirkten.
    Gowers sah die ersten rein hinduistischen Tempel, ohne islamischen oder buddhistischen Einfluss, und erkannte eher mit dem Bauch als mit dem Verstand den wichtigsten Unterschied zwischen dieser Erdreligion und den Himmelsreligionen, die er gewohnt war – und verachtete. Deren Gebete galten fernen Göttern, Jahwe, Jehova, Allah, bloßen Ideen also, die notwendig eine Offenbarung brauchten und damit eine ganze Schar von Propheten nach sich zogen, die den Menschen vorschrieben, was in Gottes Namen zu geschehen habe.
    Das Christentum in all seinen Ausprägungen, mit all seinen Sekten, das Judentum und der Islam gingen von einem Jenseits aus, dem ihre jeweiligen religiösen Bauten zustrebten. Sie wirkten in ihrer schönsten Form leicht, sphärisch, ließen Luft und Licht ein, und die vollendetsten dieser Gebäude waren so filigran, dass sie zu schweben schienen. Für die Gläubigen hatte all das etwas Tröstliches; die klare Trennung zwischen Diesseits und Jenseits ließ die Armen hoffen, dass ein besseres Leben ihrer warte, wenn sie auf Erden nur brav stillhielten, und die Reichen hatten zumindest die Illusion, sich das Himmelreich erkaufen zu können.
    Auch die Tempel des Hinduismus waren höchst filigrane Bauwerke, aber seltsamerweise hatten sie dabei nichts Schwebendes; eher lasteten sie auf der Erde. Sie schienen nicht errichtet, sie schienen gewachsen zu sein, und tatsächlich war der Sikhara , der hinduistische Tempelturm, der aus unzähligen auf- und nebeneinander in die Höhe strebenden Kegeln und Wülsten – Amalakas  – bestand und keine Fenster oder Öffnungen hatte, einer organischen Form nachgebildet: der Frucht des blauen Lotus. Gräser, Gebüsche, ja kleine Bäume, gewachsen auf der Erde, die der Wind in Jahrzehnten in den Spalten und Nischen des Sikhara anhäufte, gaben den Tempeln bisweilen das Aussehen künstlich aufgeschütteter Berge.
    Diese Religion war nicht auf ein Jenseits ausgerichtet; es gab kein Jenseits, es gab nur die Welt mit ihren ewigen Kreisläufen von Werden und Vergehen, von denen das Padma Samsara , das Rad der Wiedergeburten, nur einer war. Anders als in der gerichteten – linearen – Zeitvorstellung der Religionen des Westens und Nahen Ostens, mit ihrem klar umrissenen Anfang und Ende der Zeit, spielt in einer Religion, die auf einem zyklischen Zeitbegriff basiert, die Fruchtbarkeit eine viel größere Rolle. Fruchtbarkeit aber, das heißt: Nähe zur Erde, das heißt Wärme, Höhle und Dunkelheit! Aus diesem Grund bedeutet Grabhagriha , die Bezeichnung für den niedrigen Innenraum des hinduistischen Tempels, wörtlich Mutterleib , und in seinem Zentrum steht deshalb der Lingam , ein steinernes Phallussymbol.
    Als Coryate und Gowers am frühen Morgen die Stadt wieder verließen, waren sie seltsamerweise nicht allein. Die Straße war voller Menschen, Frauen, Kinder, Händler mit ihren Ochsenkarren und immer öfter auch Männer jeden Alters, die ihre Kleidung abgelegt und sich mit Asche eingerieben hatten. Der Investigator sagte nichts und fragte nichts, um nicht inmitten des immer reißenderen Menschenstroms nach Norden als Engländer erkannt zu werden. Mitten auf einem Basar mit seinen niedrigen Krämerbuden und offenen Marktständen kam alles zum Stehen.
    Hier war ein fünf Meter hoher Pfahl aufgerichtet worden. Auf seiner Spitze steckte ein Rad, an dem man ein starkes, aber biegsames Bambusrohr angebracht hatte wie eine Rah oder einen Querbalken. An beiden Enden dieses Rohrs waren Hanfseile befestigt, an deren einem man wie bei einem Kettenkarussell herumschwingen konnte, wenn sich am anderen Ende jemand die Mühe machte, als »Gegengewicht« im Kreis um den Pfahl herumzulaufen. Gowers dachte an ein harmloses Jahrmarktvergnügen – bis er die blutigen Haken am Ende des schwingenden Seils sah.
    Erst vor einem Jahr hatten die Briten das hook-swinging als barbarische Unsitte offiziell verboten, aber wo keine Briten waren, machte auch

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