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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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anordnen kann – aber noch nichts wirklich Revolutionäres. Deshalb denke man sich nun einen zweiten solchen Ring, konzentrisch um den ersten gelegt. Darüber noch einen dritten, vierten, fünften. Und nun stelle man sich vor, dass man diese Ringe einzeln drehen und so gegeneinander verschieben kann, dass sich in der ablesbaren Vertikalen immer neue Buchstaben -, also Bildkombinationen herstellen lassen.
    Die Dynamik dieses Systems und die Schnelligkeit, mit der man mit seiner Hilfe die verschiedensten Gedächtnisbilder auch in ihren unwahrscheinlichsten Kombinationen überschaubar vor dem inneren Auge anordnen konnte, erzeugte sofort ein Brausen in Johns Kopf. Kein Gedanke würde ihm je wieder entgleiten, und selbst das Undenkbare ließe sich mit diesem System jederzeit herstellen und überprüfen!
    Miertsching spürte die Faszination seines Schülers und wollte sie nutzen, indem er von den Prädikaten Gottes als den allgemeinsten Elementen des Seienden sprach. Diese grundsätzlichen theologischen Begriffe, eingesetzt in das System des Lullus und ein wenig am Rad gedreht – dann könne man die gesamte Schöpfung überschauen, ja, man hielte gewissermaßen den Plan Gottes in Händen!
    Er merkte, dass John Gowers – oder war es schon wieder Davy Jones? – dieser Anwendungsmöglichkeit des Systems deutlich skeptischer gegenüberstand, wurde aber von seinem eigenen Missionierungsschwung mitgerissen und hörte sich plötzlich über die religiösen Spielereien eines Niccolo da Lucca dozieren, der nach dem lullschen System eine Gebetsmühle konstruiert hatte: aus dreihundertsechsunddreißig auf solchen Ringen angeordneten Textelementen ließen sich siebenhundertzwanzig Milliarden lateinische Verse zur höheren Ehre Gottes herstellen – wozu ein einzelner Mensch allerdings hundertsiebenunddreißigtausend Jahre benötige. Aber dennoch: alle denkbaren Gebete der Erde auf fünf einfachen Ringen! Ob ihm das nicht zu denken gäbe?
    Der Junge überlegte tatsächlich eine Weile und nickte schließlich, dann aber erwiderte er mit einem spöttischen Grinsen, ob es nicht noch einfacher sei, bloß das Alphabet aufzusagen? Gott könne sich die passenden Buchstaben selbst herauslesen und daraus so viele Gebete machen, wie er wolle. Damit waren sein Gedächtnisunterricht und der seltsame Waffenstillstand mit Miertsching beendet.
    Der Missionar aber, durchgefroren, mutlos, zahn- und heimwehkrank, lag durch das schauerliche Geheul seines Wandnachbarn in dieser endlosen Nacht wieder lange wach und schrieb erst gegen Morgen und unter Tränen die für lange Zeit letzten Worte in sein Tagebuch: Oh Herr, soll diese Prüfung kein Ende nehmen?
     

107.
     
    Einen weiteren Tag lang waren sie nach Norden gegangen, auf einen Höhenzug zu, der auf seinen Karten als Mahabharatka Range eingezeichnet war. Beide wussten, dass dies ihre letzten gemeinsamen Schritte waren. Dennoch hatten sie, seit sie aufgestanden waren, nicht miteinander geredet, nicht über den Fall und über nichts sonst. Der Morgen war beinahe kühl gewesen und würde bald zu einem prachtvollen, strahlenden Tag werden.
    Gowers, der dem Digambara sonst immer ein paar Schritte voraus gewesen war, ging jetzt langsamer, beinahe hinter dem alten Mann. Er versuchte auszurechnen, wo die Boote jetzt waren, fragte sich, wie und wann er mithilfe von Ruhimans Papieren an ein Pferd kommen würde; aber auch, auf welche Weise er sich von dem seltsamen Heiligen verabschieden sollte. Vielleicht wäre es am besten, einfach stehen zu bleiben und den alten Mann weitergehen zu lassen, aber als die Sonne höher stieg und den feinen Nebel über den Feldern endgültig auflöste, fragte Gowers stattdessen: »Was ist der Mensch, Babu?«
    Für eine Sekunde verhielt Coryate seine Schritte und schaute den jungen Mann verblüfft an, als erwarte er einen Scherz. Aber in den seltsamen grauen Augen seines Gefährten las er, dass dieser eine ehrliche Antwort verdiente. Er setzte sich wieder in Bewegung, während er sprach: langsam und überlegt, als seien seine Worte die Summe eines jahrhundertelangen Nachdenkens über keine andere als diese eine Frage.
    »Einst waren die Menschen ein Teil der Welt, wie der Wind und das Gras und die Berge. Sie jagten, sammelten, machten Kinder, und sie starben schließlich, ohne aufzubegehren, fünftausend Generationen lang. Sie fügten sich ein, und sie wussten sich eingefügt in eine Ordnung des Daseins, die keinen Namen hatte und keinen brauchte, weil es nur sie gab. Das

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