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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Leben war ein kurzer Traum, den die Erde gab und nahm, so wie Tag und Nacht wechseln und die Wolken aus dem Meer steigen.
    Das war vor langer Zeit, vor aller Zeit, aber etwas davon ist noch in uns, eine ferne Erinnerung, eine Sehnsucht, die man in Belait das Paradies nennt und hier: die Traumzeit. Die Menschen waren eins mit den Dingen und wollten nicht mehr als das, wussten nicht einmal, was das ist: Wollen.
    Dann geschah etwas. Es geschah nicht mit einem Mal, nicht an einem Ort. Es geschah langsam, immer wieder, immer länger. Schnee, der sich nicht auflöste, Nacht, die nicht verging. Das Eis schob sich über die Berge und drückte sie nieder. Die Kälte nahm zu und die Dunkelheit. Die Erde hörte auf, freundlich zu sein. Immer kürzer wurden die Sommer, das Wild verschwand, und wenn doch einmal Sonne schien, stieg die Flut, immer wieder, immer höher, zwei-, dreitausend Jahre lang. Hundert Generationen! Und die Menschen wurden ausgelöscht, Stamm für Stamm, Clan um Clan, und ihr Tod wurde ihnen bitter. Da zerbrach ihr Vertrauen in die Erde, langsam, wie Felsen splittern, aber tiefer mit jeder der absterbenden Generationen.
    Es müssen große und grausame Augenblicke gewesen sein, als die letzten Kinder der Menschen aufstanden, vereinzelt, aber überall sich erhoben neben ihren toten Gefährten und sagten: Wir werden nicht untergehen in dieser Flut und von dieser Nacht nicht verschlungen werden und nicht leise von hier verschwinden. Und wenn die Erde uns nicht mehr gibt, was wir brauchen, werden wir es uns nehmen, werden wir es ihr wegnehmen! Von jetzt an wollen wir Räuber sein und Diebe an den Dingen; listig, wo Listen uns nützen, und gewalttätig, wo Gewalt hilfreich ist. In diesen Augenblicken begann die Geschichte.
    Die Menschen nahmen die Dinge, die Welt, die Götter, sogar die Zeit in ihre Hände. Zuerst glaubten sie, sie müssten etwas tun, müssten handeln , um zu leben. Aber schließlich lebten sie nur noch für ihre Taten, in ihren Taten und erzählten nur noch von sich und für sich selbst, damit sie ewig würden. Das Handeln, das Tun wurde ihr Gott, das Geschehenlassen ihre Hölle.
    So schufen sie in langen Jahrtausenden die Maya , eine Scheinwelt vor der Wirklichkeit, in der alle von Menschen erkannten und erschaffenen Dinge sich gegenseitig stützen; denn nur so können sie sich aufrecht halten. Und eifersüchtig wachen die Menschen darüber, dass ja niemand einen Stein wegnimmt aus ihrer Mauer, diesem Trugbild, das sie errichtet haben zwischen sich und dem Leben und seinem notwendigen Ende. Glaube, was ich glaube, oder ich erschlage dich! Tue, was alle tun, oder verschwinde aus unserer Welt. Das Kali-Yuga , das Zeitalter des Zorns und der Zerstörung, war angebrochen. Das ist, in aller Kürze, der Mensch, John Gowers.«
    Sie erreichten jetzt eine Wegkreuzung: links führte die Straße weiter in die fernen Berge hinauf, rechts zum Fluss Rapti, nach Faizabad, Jaunpur und Varanasi. Sie blieben gleichzeitig stehen.
    »Und wohin geht der Mensch?«, fragte Gowers verschmitzt.
    »Ich gehe nach dort«, antwortete Coryate, der ebenfalls lächelte, und zeigte nach links. Der Investigator wies nur knapp mit dem Finger in die andere Richtung. Beide lachten.
    »Kommen Sie doch in hundert Jahren mal wieder her«, sagte der alte Mann.
    Gowers nickte. »Ich werde da sein, Babu!« Er meinte es ernst. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich dann nach rechts, nach Benares und seinem Fall zu, aber Coryate rief ihn noch einmal an, als beide schon ein paar Schritte gegangen waren.
    »John Gowers! Die Höhle der Wölfin … Sie ist blau.«
    Gowers nickte erneut, und beide setzten ihren Weg fort. Er konnte mit der letzten Information nicht viel anfangen, dachte später aber umso länger darüber nach. Erst als er nach einer knappen halben Stunde eine Anhöhe erreichte, blickte er sich noch einmal um. Er sah, dass die kleine braune Gestalt, merklich langsamer als alle Tage zuvor, auf die klar und deutlich am Horizont aufsteigenden Berge zuging.
    Nach einer Weile nahm der Investigator sein Fernrohr zu Hilfe und stellte fest, dass der alte Mann seinen Wanderstab weggeworfen hatte. Er verfolgte zuerst den Weg seines Gefährten, hob aber dann das Glas ein wenig höher und betrachtete die Mahabharatka Range . Und erst jetzt sah er, dass das, was er für weiße Wolken darüber gehalten hatte, in Wahrheit eine zweite, sehr weit entfernte und unvorstellbar hohe Bergkette war. Gowers schluckte. Nicht so sehr, weil dies die

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