Das blaue Siegel
glänzenden Gipfel waren, die er in seinem Opium-Traum gesehen hatte, sondern weil er wusste, dass die kleine braune Gestalt ihre Pässe überschreiten würde.
108.
Weit oben im Avadh, wo der Wald von Teriani beginnt, auf einem großen Findling, abgesprengt, als die vorzeitliche Insel Indien gegen den asiatischen Kontinent stieß und der Druck alles Land zu Gebirgen aufschob, lag eine alte Wölfin in der Sonne ihrer letzten Tage. Sie war weit gelaufen, sie hatte viele Kinder und Kindeskinder gehabt, vier Generationen junger Wölfe gesehen und ihnen alles beigebracht, was sie wusste. Nun war sie müde, seit langer Zeit schon war sie so müde.
Im vergangenen Winter hatte sie ihren letzten Fangzahn verloren, konnte jetzt nicht mehr jagen, töten, konnte nur noch das bereits tote Fleisch kauen, weit hinten in ihrem Maul. Vor einigen Wochen hatte ihr Rudel, Enkel ihrer Kinder, sie deshalb als nutzlosen Esser verjagt, weggebissen, und noch einmal war sie allein gewandert, wie viele Jahre zuvor. Zweimal hatte sie Aas gefunden, so alt, dass man kaum noch erkennen konnte, welches Tier es einmal gewesen war. Es hatte sie nicht befriedigt, ihr nicht geschmeckt, sie hatte nur gefressen, weil sie immer gefressen hatte, weil es so sein musste.
Der große Stein war angenehm warm unter ihrem Bauch, die Sonne heizte ihn auf, und er speicherte die Wärme auch nachts, sodass sie beschlossen hatte, nicht mehr wegzugehen, nicht mehr weiterzuwandern. Manchmal, meist am Morgen, wenn der Wind frisch war, fühlte sie den Impuls aufzuspringen, sah sich nach ihrem Rudel um, das jetzt auf die Jagd ziehen würde; aber sie war allein. Es war ein merkwürdiges, unnatürliches Gefühl, einfach liegen zu bleiben, einfach nicht mehr zu tun, wozu sie doch auf der Welt war. Aber dann kam es ihr wieder ganz leicht vor, wurde sie so ausgelassen in ihrem Herzen wie ein Jungtier, ein Kind, das das Falsche tut, um einfach einmal das Falsche zu tun, um zu wissen, wie das Falsche sich anfühlt.
Mittags aber, wenn die Sonne hoch stand, hatte sie nur noch das Gefühl, dass sie gut lag, wo sie lag. Etwas in ihr wusste, dass dies der Tod war; aber etwas anderem in ihr war das völlig egal. Sie blickte über die Ebene, die sie so lange beherrscht hatte, lange allein, dann mit ihrem Rudel. Sie sah den Fluss in der Sonne glitzern; noch immer der Fluss ihrer Jugend, den sie hinauf- und hinuntergezogen waren, der immer da war, mal größer, mal kleiner, seit die Welt stand, und der einst, als Gigant, in seiner Jugend, auch den riesigen Stein, auf dem sie lag, aus den Bergen herabgetragen hatte.
Am Nachmittag schreckte sie hoch und wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Die Warnrufe der Vögel hatten sie geweckt und klangen noch in ihren Ohren. Sie hörte auch die Geräusche vieler kleiner Füße, all der Tiere, die an ihr und ihrem Felsen vorbei in den Wald von Teriani flüchteten. Die große Wölfin hob noch einmal wachsam den Kopf, stellte die Ohren auf, und dann sah sie es; wie eine endlose niedrige Baumreihe am Horizont, die sich indes bewegte und auf sie zukam. Das waren die Menschen. Eine ununterbrochene Kette kleiner schwarzer Gestalten, die sich über die gesamte Horizontlinie erstreckte, die ganze Ebene absperrte.
Sie kamen näher, sie machten die Welt eng, schlossen sie ein. Der Lärm ihrer Schreie, ihrer Trommeln und Klappern schwoll an, die Erde bebte unter ihren Füßen, und alles, was fliehen konnte, floh vor ihnen. Was war das? Was hatten sie vor? Einzelne Wölfe, ratlose Jungtiere, Mitglieder ihres Rudels, deren Anblick, Geruch sie so gut kannte, liefen verstört von rechts nach links, fanden keinen Durchschlupf und zogen sich langsam immer weiter zurück, ohne letztlich entkommen zu können, denn nun drang der Lärm der Treibjagd auch aus den Wäldern herunter.
Schüsse erklangen, lauter Jubel übertönte die Todesschreie ihrer Kinder, das letzte scharfe Schnappen ihrer Kiefer, ehe sie, auf hohe Stangen gespießt, in der großen Jagd mitgetragen wurden: Standarten eines erbarmungslosen Willens, die ganze Erde zu besitzen und mit niemandem mehr zu teilen. Nur Raksha, die Dämonin, fühlte sich sicher, geborgen, grau an den grauen Felsen geschmiegt.
Sie fühlten sich unendlich stark. Endlich konnten sie etwas gegen den Schrecken der Nacht tun, der sie so lange gepeinigt hatte; ganze Dörfer hatten sich zusammengeschlossen, Männer, Frauen und Kinder zur großen Jagd. Tagelang waren sie unterwegs, wie die Völkerscharen der
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