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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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auf die Zunge und wäre am liebsten davongelaufen. Glücklicherweise erinnerte ihn die schwere und dennoch bemerkenswert instabile Perücke aus echtem, aber schon ziemlich altem Menschenhaar daran, dass er keine schnellen Bewegungen machen durfte, wenn er nicht aus seiner Rolle fallen wollte.
    Fast ein wenig enttäuscht bemerkte er aber rasch, dass die zahllosen Passanten, sowohl Frauen als auch Männer, ihn geradezu beiläufig übersahen; da dieser Kulturkreis seine Mitglieder dazu erzog, bestimmte Dinge, wie etwa Nacktheit, außerhalb eng umrissener Situationen und Stimmungen nicht weiter wahrzunehmen, war ein nackter Mann in den Straßen von Benares also so gut wie unsichtbar, jedenfalls wenn ihn sein Auftreten gleichzeitig als Asketen oder religiösen Büßer auswies.
    Das erleichterte die Arbeit des Investigators, in diesem Fall die genauen, tagelangen Beobachtungen am Panchganga-Ghat, natürlich erheblich. Diese Anlegestelle war die erste und größte, wenn man, wie die Boote aus Lakhnau, von Norden und gegen den Strom nach Benares kam. Hier würde er – wie ausgemacht – wieder auf Ishrat und Mukhopadhyaya treffen, und hier würden, aller Wahrscheinlichkeit nach, die böse Absicht und ihre Diener noch einmal zuschlagen.
    Das Unterfangen, aus der schier endlosen Menge der Badenden, der Bettler, Händler, Fischer, Ruderer, Träger bestimmte Gesichter herauszufinden oder gar wiederzuerkennen, schien auf den ersten Blick völlig aussichtslos. Aber erstens war das nach langer Zeit mal wieder eine echte Herausforderung für seine Gedächtnissysteme, und zweitens schränkte ein Umstand den Personenkreis, nach dem er Ausschau hielt, ganz erheblich ein: Gowers suchte Leute, die nicht hierhergehörten. Er wusste nicht, wie der Mörder oder die Mörder aussahen, aber in welcher Verkleidung sie auch auftreten mochten: Sie würden nicht baden, betteln, handeln, fischen – sie würden nach Norden schauen und warten, genau wie er.
    Schon als junger Bursche in New Orleans hatte er dieses Spiel bisweilen gespielt: auf einem belebten öffentlichen Platz, an einer Straße sitzen und sich fragen, wer in diesem Gewimmel wohl mit welchen Absichten unterwegs war, wohin wollte, welche Tätigkeit ausübte und woran man das erkennen konnte. Genau genommen war es eine der Grundübungen seines Berufs, und oft war er Fremden einfach nur nachgegangen, um seine Spekulationen zu überprüfen. Dabei war ihm schon früh eines aufgefallen; es gab in einer großen Stadt bemerkenswert wenig Leute, die einfach nur da waren. Eine Stadt wurde nicht bewohnt, sie wurde benutzt, wie man ein Werkzeug, eine Maschine benutzt.
    Eigentlich hatte er erwartet, dass das in Indien anders sein würde, dass es hier mehr Menschen gab, die nichts wollten, nichts taten, sich aus religiösen, philosophischen oder einfach nur Mentalitätsgründen Zeit ließen oder nahmen. Aber in Benares sah er, dass er sich getäuscht hatte. Das Prinzip Stadt war überall gleich.
    Schon am zweiten Tag seiner Wache entdeckte er erstaunlich viele bekannte Gesichter. Junge Burschen, die herumlungerten, und ärmlich gekleidete Frauen, die auf und ab gingen; aber auch sie wollten etwas. Die Jungen warteten auf Leute, die allzu sorglos mit ihren Börsen umgingen, und die Frauen auf Männer, mit denen sie kurz in den zahlreichen Winkeln der großen Anlegestelle, unter einem Steg, in einem Boot, hinter Mauervorsprüngen und einmal auch nur hinter einem Sonnenschirm verschwinden konnten. Auch das war überall gleich.
    Der Mörder von Kanpur war wie ein Paria gekleidet gewesen, ohne einer zu sein. Also suchte der Investigator nach Leuten, die nicht in ihre Kleider zu passen schienen, sich unwohl fühlten, häufig kratzten – und die unruhig wurden, wenn Budgerows aus dem Norden herankamen. Aufgrund seines besonderen Sehvermögens – das ihm in der grellen Sonne und ohne den Schutz seiner blauen Brille allerdings auch erhebliche Kopfschmerzen verursachte – sah Gowers diese Boote ein, zwei Minuten früher als jeder andere, der eventuell danach suchte. Das gab ihm Zeit, die Reaktionen der Menschen auf dem Ghat beim Auftauchen solcher Boote zu beobachten, und bald hatte er mehrere herausgefiltert, die hier offenbar auf jemanden warteten. Das mochten Verwandte sein, die zu Besuch in die Stadt kamen, Freunde, Geschäftspartner, und bei einer ungewöhnlich hübschen jungen Frau ging er zunächst von einem fernen Verlobten oder Bräutigam aus. Erst als sie auch am dritten Tag da war und

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