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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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roten Sari ragenden nackten Unterschenkel herunterbiegen und mit Stricken am unteren Ende des Holzstoßes festzurren mussten. Danach geschah eine Zeit lang gar nichts; die Männer hockten sich auf die Fersen zurück, und nur dünner Rauch kringelte sich über der Leiche. Plötzlich aber flammte das Leichentuch auf wie eine alte Zeitung im Kamin, und die Taylors konnten ihre Operngläser nicht mehr von den Augen nehmen.
    Das graue Haar der Toten brannte wie ein Bündel Stroh und beleuchtete in gespenstischer Weise ihr Gesicht. Die Asche des Leichentuchs zerfiel auf dem alten, verwelkten Körper, dessen Haut sich dabei noch einmal spannte wie eine anschwellende Blüte und schwärzliche Blasen aufwarf, die schließlich mit einem lauten Knacken aufplatzten. Gase entwichen dem Körper, strömten aus allen Öffnungen, Poren und brannten mit heller, bläulicher Flamme, dicht über dem garenden Fleisch. Die ganze Leiche zischte jetzt, brodelte wie ein geschmorter Apfel und schien sich dabei zu bewegen. Diesen Moment größter Hitze nutzte einer der Domras , um eine Schale mit Reis ins Feuer zu schieben; unbekümmert, ob hier und da etwas von dem prasselnden Leichenfett in sein Frühstück spritzen würde.
    Daisy, weiß um die Nase, bat ihre Eltern in diesem Moment weiterzufahren, sah aber noch, wie der heruntergebrannte Holzstoß des alten Mannes von den Bestattern mit einigen Fußtritten in den Fluss befördert wurde; aus dem dann kurz darauf eine noch zusammenhängende, schwarz verbrannte Wirbelsäule und ein versengter Schädel auftauchten und durch die fröhliche Masse der weiter flussabwärts badenden Menschen langsam nach Norden trieben. Einige der Gläubigen spülten sogar ihre Münder aus.
    Mit aller Nüchternheit des geborenen Yankees fragte sich Charles Taylor bei diesem Anblick, warum um Himmels willen die Verbrennungs-Ghats denn nicht gleich am nördlichen Ende der Stadt lagen? Dort, am Panchganga-Ghat, unter der großen Moschee Auranzebs, stieg die Familie nach vierstündiger, sehr eindrucksvoller Kahnfahrt aus ihrer Barkasse und fand Taylor endlich Gelegenheit zu einer Aufnahme – und sogar ein sehenswertes, weitgehend regloses Objekt für den Vordergrund.
    Dieser Yogi war herrlich grässlich! Splitternackt, wie schon so viele Asketen und Fanatiker an den anderen Ghats, die aber nur Daisys, nicht Mary Taylors Interesse gefunden hatten, weil sie mehrheitlich steinalt waren. Dieser hier war deutlich jünger, muskulös, gut gebaut, wenn auch durch eine schwarzgraue Ascheschicht auf seiner Haut, hier und da unterbrochen von Streifen greller gelber Farbe, ziemlich verunstaltet. Sein Haar hing verfilzt und zottig bis auf die Schultern herab, und der Blick seiner merkwürdig hellen Augen – kaschiert durch einen der breiten gelben Striche, die die Taylors sofort an die Kriegsbemalung nordamerikanischer Indianer erinnerten – war nicht kontemplativ, in sich selbst versunken, sondern wild, fast zornig, als er die Amerikaner anstarrte.
    Man ging lieber nicht zu dicht an ihn heran, man hatte von Thugs gelesen, ihren wahnsinnigen Opferriten, weiß Gott, vielleicht fiele der Kerl einen an! Wozu hatte man Operngläser? Erst als Charles und seine Diener die Kamera endlich aufgebaut hatten, traten die Damen ein wenig zur Seite. Ein herrliches Bild, wenn auch auf dem Kopf stehend: die beiden schlanken, gen Himmel strebenden Minarette, der festungsartige Aufbau der Treppe und des Palastes darüber und im Vordergrund dieser nackte Wilde, von jeglicher Kultur unberührt. Charles Taylor biss die Zähne zusammen, bis seine Kiefer schmerzten; minutenlang, in der Hoffnung, dass der Kerl stehen blieb, wie er stand.
    Aber fast, als wüsste er etwas über die Belichtungszeiten von 1866, drehte der Yogi sich nach etwa fünf Minuten um und ging, seinen Hintern zeigend, zur Moschee hinauf. Auf der Glasplatte würde er nun nicht mehr als ein verwischter Schatten werden! Bildete Daisy es sich ein, oder hatte der Mann ihr zugezwinkert, ehe er sich umdrehte?
     

115.
     
    John Gowers fühlte sich tatsächlich nahezu unsichtbar, seit er seine Kleidung abgelegt hatte. Zuerst hatte er noch bei jedem Windstoß, beinahe jeder Bewegung gespürt, dass er nackt war, und errötete jedes Mal unter seiner Kriegsbemalung, wenn eine Frau seinen Weg kreuzte. Als er eine größere Gruppe fröhlich schwatzender junger Mädchen überholte, die ebenfalls auf dem Weg zum Fluss war, glaubte er sogar, eine Erektion zu bekommen, biss sich entsprechend hart

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