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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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anscheinend ergebnislos wartete, setzte er sie fast widerwillig auf die inzwischen recht überschaubare Liste von Verdächtigen. In diesem Moment kamen die Amerikaner.
    Zum ersten Mal fühlte er die subtile Gewalt eines kolonialen Blicks; wie oft mochte er ihn selbst in den letzten Wochen auf die Eingeborenen geworfen haben? Am Anfang machte es ihn wütend, denn die beiden Frauen, die ihn durch ihre Operngläser unverhohlen anstarrten, musterten wie ein Exponat im Museum oder einen Affen im Zoo, sagten damit nichts anderes als: Du bist kein Mensch! Du bist zu unserem Vergnügen da, und was uns zu Hause schockieren oder beschämen würde, das weckt hier nur unsere Neugier. Und nichts, keine Moral, kein Gesetz hält uns davon ab, diese Neugier zu befriedigen!
    Außerdem wurde er sich erneut seiner schonungslos sichtbaren Männlichkeit bewusst, als die beiden feinen Damen unter ihren Gläsern zu lächeln begannen. Er hörte ihre Stimmen und Kommentare. Die Sprache verriet die Amerikaner, Dialekt und Geschwindigkeit die New Yorker, ihre Kleidung und ihr Benehmen, ja eigentlich die bloße Tatsache, dass sie hier waren, ihre gesellschaftliche Position.
    Nach kurzer Zeit belustigten ihn deshalb die Situation und die irre Idee, hinüberzugehen und sie zu fragen, wie weit die Pläne für die Brooklyn Bridge inzwischen gediehen seien, ob Boss Tweed noch immer in Tammany Hall säße, oder um einfach nur zu sagen: Hey, Schätzchen, gefällt dir, was du siehst?!
    Als die Kamera aufgebaut war, wusste er endgültig, dass nicht sie ihn, sondern er sie in der Hand hatte – zumindest für die nächsten sechs, sieben Minuten. Also wartete er, bis sie sicher waren, ihn ungefragt, ungestraft ihren Sammlungen einverleibt zu haben, und glaubte sogar, einen leisen Fluch zu hören, als er sich doch noch umdrehte.
    Gowers genoss dieses Umdrehen jedoch noch aus einem anderen Grund: Wann war ein kleiner New Yorker Straßenermittler schon mal in der glücklichen Lage, den Herrschaften von der Fifth Avenue so deutlich zu zeigen, was sie ihn konnten? Man sollte sich öfter mal anmalen, dachte er und grinste dabei.
     

116.
     
    »Warum zum Teufel sind sie alle schwarz im Gesicht?«, fragte McClure, als Leutnant Pims Männer mit der gleichen Kriegsbemalung wie ihr junger Häuptling und einem einzigen kleinen Schlitten im Eis auftauchten. Ungeduldig war Bedford Pim den beiden vorausgelaufen, als seine Instrumente ihm zeigten, dass er von der Mercy Bay – jedenfalls den Koordinaten zufolge, die McClure vor einem Jahr in Winter Harbour zurückgelassen hatte – nicht mehr weit entfernt war.
    Pim schien sich wegen dieser unerwarteten ersten Frage ein wenig zu genieren und kratzte sich im Genick. »Oh, nur so eine Idee, Sir. Von … äh … Admiral Belcher, Sir. Soll angeblich die Reflexion des Lichts auf dem Eis vermindern.« Schon an den leichten Reaktionen auf McClures Gesicht bei Erwähnung des Namens Belcher las der Leutnant die Erlaubnis ab, deutlicher zu werden: »Schwachsinn, wenn Sie mich fragen, Sir!«
    Admiral Edward Belcher war der Mann gewesen, der Polarfüchse und Sträflinge auf die Suche nach Franklin schicken und kleine Luftballons im gesamten Polargebiet aufsteigen lassen wollte. Dass ausgerechnet Belcher Austins Geschwader abgelöst hatte und mit nicht weniger als fünf Schiffen in der Arktis war, wie Pim auf dem Weg zur Investigator berichtete, verriet McClure unangenehm viel über die Schwierigkeiten, die vor ihm lagen.
    »Wo sind sie?«, fragte er, um sich möglichst rasch ein Bild von der Lage zu verschaffen.
    »Es gibt eine Nordgruppe und eine Westgruppe, Sir. Belcher ist mit der Assistance und der Pioneer den Wellington-Kanal hochgefahren. Keine Ahnung, was sie da finden wollen, Sir. Franklin kann es ja wohl kaum sein.« Der Leutnant lächelte verschmitzt, und McClure wusste, dass sich unter der schwarzen Rußschicht kein Dummkopf befand. Es war in Marinekreisen allgemein bekannt, dass die Suche nach Franklin für die Admiralität längst zu einem Vorwand geworden war, um den Nordpol zu erreichen.
    »Wir sind mit Resolute und Intrepid im Westen«, fuhr Pim fort. »Aber Kapitän McClintock ist im Moment über Land unterwegs, sucht die Westküste von Melville Island und all das. Er war es übrigens, der Ihre Botschaft gefunden und zur Resolute geschickt hat, Sir.«
    Zum ersten Mal, seit diese drei Überwinterungen ihm fast alle Zähne des Heroismus gezogen hatten, empfand McClure wieder so etwas wie Hochachtung vor und

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