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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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sonst schneide ich Ihnen Ihre alberne kleine Rotzbremse ab und rauche sie in der Pfeife!«
    »Sie … sind … nicht satisfaktionsfähig!«, stammelte Sweet William und ließ die Telegrafenleitungen nach Allahabad und Delhi glühen.
     
    Jemdanee wusste, dass sie nicht allein war. Weit oben auf der Treppe zur Stadt und zur Moschee hinauf saß Khurram, ihr Hofmeister, der den Befehl übermittelt hatte. Drei jüngere Brüder aus Patna, als Lastenträger verkleidet, die an der kleinen Stupa eines reichen Kaufmanns und seiner Witwe herumlungerten, hatte Khurram ihr ebenfalls gezeigt, und angeblich war der große Jaysingh von Mirzapur in der Stadt, ein leiblicher Sohn der Erhabenen. Jemdanee hatte ihn nur einmal gesehen, fünf Jahre zuvor, als er aus Rangoon zurückgekehrt war und ihr – und zahlreichen anderen Schwestern im blauen Haus – ein Kind geschenkt hatte.
    Die Schwangerschaft war die schönste Zeit in ihrem Leben gewesen; sie hatte nicht einmal mehr arbeiten müssen, sondern war von den anderen, weniger gesegneten Schwestern verpflegt, ja umsorgt worden. Danach hatte man sie jedoch sofort nach Benares in Stellung gegeben. Jemdanee war jetzt einundzwanzig und arbeitete als Aja oder Kinderfrau für die Familie Barrington. Ihr eigenes Kind hatte sie nie gesehen – das war üblich im blauen Haus –, aber zuvor, bei der Aufzucht ihrer kleinen Geschwister, hatte sie genug über Kinder gelernt, und Memsahib Barrington wunderte sich oft über Jemdanees Fähigkeiten, ihre beiden kleinen weißen, rothaarigen Schreihälse zu beruhigen. Dabei war es ganz einfach: Man musste den Kindern, Mädchen wie Jungen, nur sanft die Geschlechtsteile streicheln.
    Als sie fünf Jahre alt war und allein auf der Straße lebte, hatte die Erhabene Jemdanee ausgewählt, ihr Kleider und Essen gegeben, sie in ihr Haus genommen und erziehen lassen. In all den Jahren im blauen Haus war sie nur einmal geschlagen worden: als sie sich nicht zu dem alten Sahib legen wollte. Aber der alte Sahib war dann gestorben, und die Welt war wieder schön. Zwar hatte ihr niemand Lesen und Schreiben beigebracht, wie ihren Brüdern, aber dafür hatte sie alle Frauenarbeiten erlernt.
    Jemdanee war ein wenig ängstlich, weil sie nicht wusste, was heute, morgen, übermorgen vielleicht geschehen würde. Aber sie war auch froh, denn nach all den Jahren, in denen sie nur genommen hatte, war endlich der Tag gekommen, an dem sie der Erhabenen einen großen Dienst erweisen konnte. Khurram hatte ihr den Dolch gegeben, ihr gezeigt, wie sie ihn gebrauchen und auf welche Stellen sie zielen musste. Es war ihr gleichgültig, was danach geschah.
    Sie hatte die beiden Sepoys nicht kommen sehen, die jetzt plötzlich von hinten an sie herantraten und sie aufforderten, mit ihnen das Ghat zu verlassen. Für einen kurzen Moment überlegte Jemdanee, ob sie ihren Dolch hervorziehen und sich wehren sollte, aber da hatten die Männer sie schon in die Mitte genommen, hielten ihr beide Hände fest und führten sie die Treppe hinauf. Verwundert suchte sie nach Khurram, aber er war nicht mehr da, und auch die drei Lastenträger waren verschwunden.
    In einem verlassenen Haus oberhalb der Treppe wurde sie vor einen Tisch geführt, an dem ein sehr eleganter britischer Offizier mit seinem Munshi oder Dolmetscher saß, der sagte, dass man auf dem Ghat nach Schmugglern suche, und sie dann nach ihrem Namen, ihrer Arbeit und ihrer Wohnung fragte. Da sie keine Schmugglerin, sondern nur eine Aja und auch noch keine Mörderin war, gab sie bereitwillig Auskunft und hatte sogar noch die Zeit, es unerhört zu finden, als ihr ein sehr schmutziger Weißer, der bis dahin unbeteiligt im Hintergrund gestanden hatte, in diesem Moment den Sari von Kopf und Schultern zerrte. Nachdem er das Zeichen in ihrem Nacken gesehen hatte, tastete er sogar mit groben Handbewegungen Jemdanees Körper ab und fand den Dolch. Erst da wurde ihr bewusst, dass die Pläne der Erhabenen verraten worden waren, und sie begann, sich schreiend zur Wehr zu setzen.
     
    Es schmeichelte Gowers insgeheim, dass die böse Absicht offenbar nicht weniger als fünf Mörder auf ihn angesetzt hatte und dass sie alle unter den gut doppelt so vielen Verdächtigen waren, die er Leutnant Edwards durch sein Fernrohr gezeigt hatte. Die übrigen, schüchterne Diebe, verwunderte Bettler, glücklose Prostituierte und ein sehr aufgeregter Schlangenbeschwörer, wurden sofort wieder freigelassen; aber wer das Siegel von Gwalior auf seinem Nacken trug,

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