Das blaue Siegel
Stolz auf die Royal Navy. Er sah die Szene direkt vor sich: den fröhlichen schottischen Draufgänger McClintock, der in Winter Harbour seine Nachrichten fand, und den einen, vielleicht die zwei braven Burschen, die er daraufhin die knapp fünfzig Meilen nach Dealy Island zurückschickte, ehe er in den unbekannten weißen Westen aufbrach.
»Und Sie?«, fragte er den schwarzgesichtigen, keine fünfundzwanzig Jahre alten Leutnant. »Soweit ich mich erinnere, hatte ich geschrieben, dass niemand in die Mercy Bay geschickt werden soll. Sie konnten doch gar nicht wissen, ob ich noch hier sein würde!« O ja, diesen wahnsinnigen, selbstmörderischen Satz – die Reise sei zu weit, zu riskant, und die Investigator würde es entweder aus eigener Kraft schaffen oder gar nicht – hatte er tatsächlich geschrieben; aber Kellett hatte ihn glücklicherweise nicht ganz ernst genommen.
»Freiwilliger, Sir«, sagte Pim schlicht. »Als der alte Kellett jemanden suchte, der mal nachgucken geht, was Sie hier unten so machen, dachte ich, das wäre doch was für den Sohn meiner Mutter.« Er sagte nicht, dass er vor drei Jahren als Fähnrich auf der Herald gefahren und der Investigator sehnsüchtig hinterhergeblickt hatte. McClure hätte sich sowieso nicht an ihn erinnert, und er wollte einen vorgesetzten Offizier nicht in Verlegenheit bringen.
Tatsächlich gehört die Reise des Leutnants Bedford Pim zu den bemerkenswertesten Unternehmungen der britischen Arktisforschung – nicht nur, weil er dadurch die Männer der Investigator rettete, sondern weil sie so viel über das Selbstverständnis der Royal Navy in der Mitte des 19. Jahrhunderts aussagt. Mit nur einem Schlitten und zwei Begleitern dreihundertfünfzig Meilen weit über ein unbekanntes, gefrorenes Meer marschieren, zu einem Stützpunkt, von dem lediglich die Koordinaten bekannt sind und an dem vielleicht längst niemand mehr zu finden ist, setzte ein Selbstvertrauen und eine Unbekümmertheit voraus, die man nur hatte, wenn man der festen Überzeugung war, bei Bedarf die ganze Welt in die Tasche zu stecken.
Nur zwei Jahre später starb der unbekümmerte junge Mann während der Belagerung von Sewastopol an den Folgen der Ruhr, also mitten in einem Albtraum aus Schlamm, Blut und Scheiße – und auch dieses traurige Ende sagt etwas über die staatliche britische Polarforschung aus, also über jene zahllosen Expeditionen, die von Offizieren der Royal Navy geführt und vom englischen Steuerzahler finanziert wurden. Sie begannen unmittelbar nach den napoleonischen Kriegen und endeten mit dem Beginn des Krimkriegs.
Diese Eckpunkte machen deutlich, welche tieferen Beweggründe die entsprechenden Unternehmungen antrieben; es ging nicht um einen neuen Seeweg nach Asien, nicht um die Nordwestpassage, den magnetischen oder geografischen Nordpol, Kälterekorde oder gar unbekannte Tier- und Pflanzenarten. All das waren Vorwände und Nebeneffekte. Es ging darum, Krieg zu führen. Nach der Niederlage Napoleons hatte die königliche Marine hundertvierzigtausend Mann unter Waffen, die keinen Gegner mehr hatten; eine gewaltige Maschinerie, die man in der Realität nur langsam und in den Köpfen überhaupt nicht abbauen konnte und die unter ihrem eigenen Gewicht zusammengebrochen wäre, wenn man kein neues Ziel gefunden hätte.
Also wurde den weißen Flecken auf ihren Landkarten der Krieg erklärt, wurden die Polargebiete, Inseln, Küstenlinien, Wasserwege mit Sextant und Zirkel mehr erobert als erforscht. Ihr übermächtiger Gegner im Norden – das Eis – war im Grunde nur etwas, gegen das diese Männer kämpfen konnten. Sie schlugen die Schlachten der Geografie, holten sich blutige Nasen und erfrorene Gliedmaßen dabei, begaben sich in Lebensgefahr, verloren Männer und Schiffe wie im Krieg – und sobald es wieder einen anderen Feind gab, politisch und ökonomisch lohnendere Ziele, ließen sie ab von der Polaris und der Wahnidee, eine Wüste beherrschen zu wollen.
117.
Als Pim die Investigator betrat, hatte er beinahe sofort das Gefühl, ins Lazarett einer stark bedrängten Armee zu kommen. Aus dem Unterdeck taumelten ihnen bleiche, abgezehrte Jammergestalten entgegen, die an ihre Rettung erst glauben wollten, als sie die wohlgenährten und – nach einer kurzen, aber heftigen Wäsche – rosigen Gesichter der Neuankömmlinge mit eigenen Augen sahen. Pims Männer weinten bei dieser Begegnung. Während ihres tagelangen Marsches über das Eis hatten sie sich mit
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