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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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wachsendem Behagen ausgemalt, dass sie an Bord des fremden Schiffes bessere Verpflegung und einen heimeligen Unterschlupf bekommen würden; jetzt standen sie in einer klammen, kalten hölzernen Gruft und sahen zu, wie ein großer Schinken, der eigentlich Teil ihrers Proviants für den Rückweg sein sollte, binnen weniger Minuten in den Mündern dieser hohlwangigen Gespenster verschwand.
    Erschüttert durch diesen Anblick machte Leutnant Pim den vorwitzigen Vorschlag, sofort die notwendigen Vorbereitungen zum Verlassen des Schiffes zu treffen und in zwei Tagen mit der gesamten Mannschaft den Rückmarsch nach Dealy Island anzutreten.
    McClures Entgegnung war kälter als die drei vorangegangenen Winter: »An Bord dieses Schiffes gebe ich die Befehle, Leutnant.«
    »Ay, Sir«, sagte Pim sofort. »Selbstverständlich. Ich dachte nur …«
    »An Bord dieses Schiffes denke zuallererst ich, Leutnant. Und wenn ich Vorschläge hören will, pflege ich danach zu fragen!«
    »Ay, Sir!«, bellte diesmal der Leutnant, legte die Hand an seine Wollmütze und erstarrte zu einem Denkmal soldatischer Pflichterfüllung. »Darf ich fragen, welche Ihre Befehle sind, Sir?«, sagte er aber dennoch, erneut gereizt durch das sichtbare Zusammenfahren der zerlumpten Gestalten an Deck. Er glaubte anscheinend, an ein Monstrum von Kapitän geraten zu sein, das gewohnheitsmäßig mit den Knochen seiner Männer Kegel schob.
    McClure trat deshalb einen Schritt zurück und antwortete so laut und mit so viel Humor, wie er nur aufbringen konnte: »Erlauben Sie, dass ich erst nachdenke und dann Befehle erteile, Leutnant. Ich weiß, das ist nicht in allen Teilen der Flotte so, aber hier haben wir es seit drei Jahren so gehandhabt und sind ganz gut damit gefahren!« Die halb verhungerten Männer lachten, und mit ihrem Lachen hatte McClure sie noch einmal – zum letzten Mal – gewonnen.
    Er schloss sich über Nacht in seiner Kajüte ein. Warum, dachte er, sollte er seinen ursprünglichen Plan nicht beibehalten? Mit dem Unterschied, dass er die schwächere Hälfte seiner Männer eben nicht in den Tod, sondern nach Dealy Island, zu den Fleischtöpfen von Belchers Geschwader schickte. Auch die Investigator selbst würde von dort aus mit frischem Proviant versorgt werden und könnte noch einen, zwei, vielleicht drei Versuche machen, den eisigen Riegel vor der Bay of God’s Mercy zu durchbrechen.
    Um diese Halsstarrigkeit des Kapitäns zu verstehen, muss man wissen, dass die Regierung Ihrer Majestät auf die Entdeckung und Durchquerung der Nordwestpassage zwanzigtausend Pfund Preisgeld ausgesetzt hatte – und durchfahren war sie ja noch nicht. McClure konnte sich ausrechnen, dass er zwar irgendeine Belohnung erhalten würde, aber auch, dass es wohl kaum die komplette Summe wäre. Weiß Gott, er war seit dreißig Jahren in der Marine: Am Ende würden sie ihm womöglich nur einen Orden, einen Ehrendegen und ein paar neue Schulterklappen verleihen!
    Es war einen letzten Versuch wert. Er würde mit Pim zur Resolute reisen und versuchen, Kellett von der Machbarkeit seines Plans zu überzeugen; gleichzeitig erteilte er den Befehl, dass Dr. Armstrong, der Zweite Offizier Creswell und der Dolmetscher mit den bereits ausgesuchten »Auswanderern« und den Geisteskranken eine Woche später den Fußmarsch nach Dealy Island antreten sollten.
     
    Das Zusammentreffen mit Henry Kellett war herzlich. Immerhin war Kellett der letzte seiner Kapitänskollegen gewesen, dem er vor drei Jahren in der Beringstraße begegnet war, und zufällig war er nun auch der erste, den er wiedertraf – ein Handschlag durch die Nordwestpassage gewissermaßen. Er hatte diesen zähen alten Brocken, der trotz seiner dreiundfünfzig Jahre noch immer alle Kraftsportwettbewerbe an Bord seines Schiffs mühelos gewann, nach sieben Abenden bei Punsch und spannenden Reiseerzählungen auch tatsächlich schon so weit, seinen Plänen zuzustimmen, als die »Auswanderer« in Sichtweite der Resolute auf dem Eis erschienen.
    Freudig liefen ihnen die Matrosen entgegen, und auch Kapitän Kellett auf dem Oberdeck konnte sein Wohlwollen kaum verbergen. Leider war aber Leutnant Wynniat, den man auf einen der Schlitten gebunden hatte wie ein loses Gepäckstück, das einem nichts als Ärger gemacht hat, nach einer vorübergehenden Entkräftung im letzten Winter wieder gut bei Stimme und brüllte schon auf eine Viertelmeile eine Begrüßung, die niemand erwartet hatte: »FOTZEN!«
    Kellett glaubte zunächst an

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