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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Verlassen des Schiffes jeder Mann nur das zum Überleben Notwendige bei sich tragen dürfe, absolut wörtlich zu nehmen: keine persönlichen Gegenstände, Erinnerungsstücke, Tagebücher, Briefe oder von den Eskimos getauschte Handelsware. Sie hatten das nackte Überleben gewählt, und genau das sollten sie auch bekommen!
    Es dauerte eine Woche, bis sie die Reste des Schiffsproviants ausgeladen und zum Nutz und Frommen von Collinson oder jedem anderen Eisfahrer, der des Weges kommen würde, in ein Erddepot an Land geschafft hatten. Auch das Schiff selbst wurde noch einmal von oben bis unten gereinigt und alles Werkzeug so verstaut, dass es gleich bei der Hand wäre, wenn doch noch einmal ein britischer Kapitän hier das Kommando übernehmen würde, ehe am 3. Juni 1853 in einer feierlichen Zeremonie die Flagge eingeholt wurde. McClure ging als Letzter von Bord und ließ dazu Seite pfeifen. Dann zog eine lange Karawane müder, geschlagener Männer, zum Teil auf selbst gezimmerten Schlitten festgezurrt, über die östliche Landzunge der Bay of Mercy nach Norden. Nur wenige blickten zurück.
    John Gowers hatte sich freiwillig zur Wache gemeldet, als sie etwa acht Meilen vom Schiff entfernt ihr erstes Lager in der taghellen Nacht aufschlugen. McClure, der natürlich wusste, was der Junge vorhatte, und wohl selbst gerne noch einmal zurückgegangen wäre, kam aus seinem Zelt, als alle anderen bereits schliefen, und fand ihn beinahe abmarschbereit. John, inzwischen siebzehn und um einen Kopf größer geworden, sah ihm finster und aufsässig entgegen, da er fürchtete, aufgehalten zu werden. Stattdessen holte der Kapitän seinen eigenen Kompass hervor.
    »Ich hoffe zwar nicht, dass Sie ihn brauchen, bei der Spur, die wir getrampelt haben, aber wer weiß.«
    John nahm den Kompass und nickte bedächtig. »Danke, Sir!«
    »Es sollte keine Schikane sein, Mr. Gowers.« Zum ersten Mal, seit sie einander kannten, hatte McClure das Bedürfnis, seine Handlungsweise zu erklären. »Aber es darf natürlich offiziell keine Ausnahmen geben. Ich hoffe, Sie wissen, warum ich nicht anders handeln konnte.«
    »Ich weiß, warum Sie es jetzt tun, Sir«, antwortete John knapp. Das war alles.
    Ehe sie von Rührung überwältigt wurden, fuhr McClure fort: »Wie lange rechnen Sie?«
    »Sechs, sieben Stunden, Sir, wenn das Wetter hält.« Der Junge blinzelte in den grauen Himmel und setzte dann seine urtümliche Schneebrille auf.
    »Ach, Mr. Gowers?!«
    John war schon einige Schritte gegangen. »Sir?«
    »Ich habe unserem Mr. Miertsching versprochen, sein Tagebuch mitzubringen. Natürlich hätte ich dann auch die Tagebücher aller anderen Offiziere mitnehmen müssen, also liegt es wohl noch in seiner Kajüte.«
    »Ay, Sir!« Der Junge grinste. »Nur für den Bären.« Beide lachten leise, und der Kapitän übernahm die Wache für seinen Schiffsjungen.
    Am Anfang fiel er gelegentlich in Laufschritt, weil er sich ausrechnete, dass er später von selbst langsamer werden würde. Die Spur war durch die Schlitten und die vielen Füße so breit ausgetreten, dass er sich um Pressrücken und Spalten im Eis nicht zu scheren brauchte. Tatsächlich sah er das Schiff in der weiten, flachen Bucht schon nach weniger als drei Stunden: ein kleiner dunkler Punkt im leblosen Weiß einer Einöde von vielen hundert Quadratmeilen.
    Am Morgen hatten sie einen weiten Bogen geschlagen, um zuerst so weit wie möglich über Land zu gehen, da dem dünnen Eis in der Bucht schon nicht mehr zu trauen war. Jetzt aber hielt John, ohne Gepäck und Schlitten, direkt auf das Schiff zu, verlangsamte nur seine Schritte und beobachtete scharf den zerbrechlichen Grund unter seinen Füßen. Er fühlte, dass das Eis sich unter seinem Gewicht bog, aber er hatte in den letzten drei Jahren ein sicheres Gespür dafür bekommen, wann es brechen würde; deshalb lauschte er auf das feine Knistern in dem großen weißen Schweigen, das ihn umgab. Er war noch nie und würde nie wieder derart allein sein.
    Über die Ankerkette am Bug kletterte er an Bord. Es hatte in der letzten halben Stunde leicht zu schneien begonnen, und er wusste, dass er sich beeilen musste, wenn er in seiner eigenen Spur zurückgehen wollte. Obwohl erst seit wenigen Stunden von seiner Mannschaft aufgegeben, wirkte das Schiff doch bereits kalt und tot, und die Wege an und unter Deck, die er so viele tausend Male zurückgelegt hatte, kamen ihm seltsam fremd vor. Sein eigenes Buch fand er sofort: Für J. Gower(s) zum 25.

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